Hegen Sie auch den Wunsch, Ihrem Alltag von Zeit zu Zeit etwas mehr Pep zu geben? Nicht immer der Monotonie des Trotts zu folgen? Wie in der freien Natur Ihre Reaktionsfähigkeit und Flexibilität zu schulen? Einfach mal unverhofft Abenteuer zu erleben, etwas ganz Unerwartetes? Da habe ich einen Tipp für Sie. Versuchen Sie es mit der Schaffung einer eigenen Realität. Bauen Sie sich für eine Zeit Ihre eigene kleine Wahrheit auf, die gleichberechtigt neben der anderen, allgemeinen Wahrheit existiert, und erleben Sie, was passiert, wenn beide Wahrheiten plötzlich miteinander kollidieren. Sie denken an einen Seitensprung? Geht vielleicht auch. Aber ich möchte ein anderes Beispiel anführen. Sie sind nun eingeladen, mir in diesem kleinen Gedankenexperiment zu folgen.
Organisieren Sie einen längeren oder auch kürzeren, in jedem Fall für Ihr weiteres Leben bedeutungsvollen Auslandsaufenthalt und buchen Sie möglichst früh einen Flug dafür. Wenn es noch Schnäppchen gibt. Freuen Sie sich dann, dass Sie den Flug so günstig bekommen haben und legen Sie das Ganze gedanklich erst mal ad acta, denn Sie haben ja noch viel Zeit bis zur Abreise.
Wenn der Zeitpunkt langsam näher rückt, werden die Menschen in Ihrem Umfeld Sie automatisch häufiger auf Ihr Vorhaben ansprechen. Sie werden vor allem gefragt werden, wann's denn nun losgeht. Sprechen Sie darüber. Sie müssen nicht noch einmal in Ihre Unterlagen schauen, denn die Reisedaten haben sich unauslöschlich in Ihr Hirn eingebrannt. Erzählen Sie, wann der große Tag ist, das macht die Sache fassbarer und steigert die Vorfreude. Markieren Sie das Datum in Ihrem Kalender und erzählen Sie allen davon, Ihren Kollegen, Eltern, sofern noch vorhanden, Kindern, sofern schon vorhanden, Ihren Freunden von Usedom bis Konstanz und am besten auch Ihren Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen. Sie werden merken, wie nah Sie durch die Erzähltradition selbst innerlich diesem schönen, großen Tag kommen.
Wenn schließlich nur noch etwa 48 Stunden fehlen, leiten Sie die konkreten Vorbereitungen ein. Waschen, trocknen, Postverwaltung organisieren, Rechnungen bezahlen, verabschieden hier und da, Abwesenheitsassistenten im Mailprogramm einrichten und so weiter. Schließlich packen. Sie müssen jetzt nur noch ein Mal schlafen.
Der große Tag. Stehen Sie in aller Ruhe auf, frühstücken, duschen und was Sie sonst noch so tun, packen Sie die letzten Kleinigkeiten ein und freuen Sie sich, wenn Ihr Partner Sie zum Flughafen begleiten kann. Fahren Sie schließlich zum Flughafen, Ankunft anderthalb Stunden vor Abflug, genügend Zeit für alles. Gehen Sie zum elektronischen Check-In für Ihren Linienflug und geben Sie Ihre Daten ein. Wenn das nicht klappt und der Automat Ihnen etwas von der geringen verbleibenden Zeit bis zum Abflug erzählt, wegen der der elektronische Check-In nicht durchgeführt werden könne, lassen Sie sich nicht beirren. Sie wissen ja, dass Sie noch mehr als genug Zeit haben. Seien Sie auch ganz gelassen, wenn eine freundliche Dame vom Bodenpersonal sich Ihnen zur Hilfe anbietet und geben Sie Ihr spaßeshalber den Ausdruck mit Ihrem Buchungscode zur Ansicht. Und nun, liebe Leserin, lieber Leser, erleben und genießen Sie das einzigartige Gefühl des Zusammenpralls zweier Realitäten, Kulturwisenschaftler sprächen von einem Clash of Realities, wenn die nette Dame Ihnen mit Bedauern in der Stimme sagt: "Nun, dieser Flug war gestern, am Dreißigsten, heute ist der Einunddreißigste."
Ich verspreche Ihnen, es dreht sich Ihnen buchstäblich der Magen um. Blut schießt Ihnen ins Gesicht. Monatelang haben Sie unermüdlich Überzeugungsarbeit an sich selbst und anderen für das Faktum geleistet, dass Sie am 31. reisen und sich für längere oder kürzere, in jedem Fall für Ihr weiteres Leben bedeutungsvolle Zeit verabschieden. Und nun kosten Sie bitte diesen Moment aus, wenn das überzeugend geschaffene Faktum plötzlich kollidiert mit der leider unveränderlichen Realität des Sie umgebenden Zeit-Raum-Kontinuums. Genießen Sie, sobald Sie sich vom ersten erholt haben, einen weiteren Adrenalinschub und fühlen Sie, wie Ihnen das Herz in die Hose rutscht, wenn die Dame am Lufthansa-Schalter Ihnen erklärt, dass der Rückflug nun auch automatisch verfällt, weil Sie die Schnäppchenklasse gebucht haben, und dass eine Umbuchung zu ähnlichen Zeiten satte 800 Euro kosten würde. Aalen Sie sich schließlich als Sahnehäubchen in dem erleichternden Gefühl, wie vergleichsweise billig doch 200 Euro sein können, für die Ihnen die Dame am Last-Minute-Schalter einen Flug am nächsten Tag verscherbelt. Bedenken Sie, Sie haben gerade ein unvergleichlich spannendes Wechselbad der Gefühle bekommen für lächerliche 200 Kröten! Sollten Sie wohlhabend sein, empfehle ich Ihnen den Spaß geradezu jeden zweiten Tag!
Aber besagter Spaß ist noch nicht ganz vorbei, ein kleines Betthupferl gibt' noch mit auf den Weg: Sie befinden sich jetzt nämlich bis zu Ihrer Ankunft am geplanten Zielort in einer Raum-Zeit-Blase, auf einer Art existenziellem Nebenpfad. Eigentlich und der Aussage eines gedruckten Datensatzes zufolge wären Sie schon einen Tag vorher am Ort Ihrer Bestimmung gewesen, wären also in diesem Moment schon da. Ihrer bis vor kurzem realen Überzeugung gemäß wären Sie jetzt gerade auf dem Weg dorthin, vielleicht gerade in der Luft. Auch Ihre Freunde, Verwandten und Kollegen wähnen Sie dort. Beides trifft aber nicht zu, denn Sie haben den Pfad der Planung des Seins willentlich oder unwillentlich verlassen und schlagen einen Haken durch Zeit und Raum. Abgefahren, sage ich Ihnen. Ich kann Ihnen das nur ans Herz legen. Bin nun auch schon ganz gespannt, wie es wird, wenn ich morgen aufbreche, um in mein ursprünglich vorgesehenes Kontinuum zurückzukehren. Und vor allem, wann ich dort ankomme.
Montag, 31. Januar 2011
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