Mein Augenlicht schwindet zunehmend. Und es ist noch lange keine Altersweitsichtigkeit, sondern Maturitätshornhautverkrümmung. Das ist insofern ziemlich blöd, als ich einfach nicht so gut sehe wie manche Menschen und ständig Sehhilfen tragen muss. Es hat mir aber andererseits einen wunderbaren Besuch bei Frau Hoppe beschert.
Frau Hoppe ist Augenärztin, und ich bin zu ihr gegangen, weil meine Augen wieder schlechter geworden sind. Ihre Praxis liegt, von außen nicht erkennbar, in einem schönen Gründerzeithaus im Hamburger Univiertel. Kein Schild weist draußen darauf hin, dass Frau Hoppe hier Augen untersucht, nur an der Klingel ist ein ganz kleiner verwaschener Pfeil angemalt. Die Tür und die Dielen knarren, wenn man eintritt. Ganz links in einem versteckten Räumchen sitzt eine grauhaarige Frau mit Haaren auf den Zähnen, das ist die Sprechstundenhilfe, die einzige. Während sie meine Personalien aufnimmt, betrachte ich die uralten augenmedizinischen Geräte, die aus wer weiß welcher Universitätssammlung geklaut und hier aufgestellt wurden. Vieles davon ist sicher über hundert Jahre alt. Im Wartezimmer sitzt außer mir nur ein älteres Ehepaar, auf dem Tisch liegen Fotozeitschriften, englische Kinderbücher aus den sechziger Jahren, Comics. Und an den Wänden das Beste: wunderschöne, professionell gemachte Bilder von Venedig und Griechenland. Auch eine überlebensgroße Tigerkatze; ich könnte schwören, die ist Griechin. Unter einem Stuhl an der Wand gegenüber steht ein ganz kleines, ganz altes Radio, das Klassik spielt. Ich finde es gleich klasse hier. Da werde ich auch schon aufgerufen und muss in einen kleinen Nebenraum, wo schon eine Frau steht, die auf einen Stuhl weist. Ich will ihr die Hand schütteln, vielleicht ist das schon Frau Hoppe, aber sie nimmt meine Hand nicht, sondern sagt: "Nein, ich bin's noch, von eben." Ach ja, die grauhaarige Frau mit Haaren auf den Zähnen. Sie will nur meine Krümmung messen. Ach so, denke ich, nee, dann wärs ja auch idiotisch, wenn wir uns hier die Hand schütteln würden. Fühle mich gleich furchtbar unprofessionell.
Dann gehts wieder zurück ins Wartezimmer, ich höre noch ein bisschen Klassik und gucke Venedig, und schon bald darf ich zur richtigen Frau Hoppe. Die ist so, wie man sein will als Frau um die Fünfzig: schlicht, dabei nicht unattraktiv, sehr gelassen, mit einer Spur trockenen Humors in vielem, was sie sagt. Ihre Guckmaschine macht sie nicht sauber, bevor ich meine Stirn dran lege; okay, denke ich, mischt sich eben mein Schweiß mit dem anderer. Sie guckt und probiert durch, wie das so ist mit meinem Sehvermögen. Als wir die richtige Stärke gefunden haben, gibt sie mir einen Auszug aus einem Buch, ich schätze, ein deutscher Spätromantiker, und bittet mich, laut vorzulesen. Das kann ich gut, ich fühle mich wie bei der Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule und lese ganz toll vor, aber bald schon nimmt Frau Hoppe mir meinen Text weg und sagt: "Prima, Sie kommen ja trotz ihrer starken Hornhautverkrümmung auf hundert Prozent!" Das finde ich zwar schön, aber ich hätte auch gern noch ein bisschen weiter vorgelesen. Dann fragt sie mich, ob ich denn wirklich eine neue Stärke wolle oder ob mir das nicht eigentlich egal sei. Komisch, denke ich, deshalb bin ich doch hier und dafür sind Sie doch da, um mir eine neue Stärke zu geben. Ich sage, dass ich das schon schön fände mit der neuen Stärke, weil ich ja beim Autofahren die Schilder immer erst so spät lesen kann und beim Arbeiten oft meine Augen brennen. "Gut, dann schreib ich's Ihnen auf." Das ist nett, denke ich und finde, es ist an der Zeit, dass wir jetzt mal richtig ins Gespräch kommen. Ich frage sie, ob sie die Bilder gemacht hat. Hat sie und freut sich, dass sie mir gefallen. Prima, dann können wir uns ja jetzt richtig schön über Venedig unterhalten, denn mir scheint, wir haben da eine gemeinsame Leidenschaft, Frau Hoppe! Aber irgendwie kommt das Gespräch nicht so richtig ins Rollen, Frau Hoppe wirkt nicht so, als sei sie zum Plausch mit mir verabredet. Irgendwie ist sie eher dabei, mich zu verabschieden. Aberaber, Frau Hoppe, wir müssen uns doch unterhalten, denke ich verzweifelt, ich finde Sie doch so toll und wir haben so viel gemeinsam, ich bin Ihre Reinkarnation, Frau Hoppe, ich liebe Sie, wir sind seelenverwandt, und es interessiert Sie einen Scheißdreck?! Aber Frau Hoppe bleibt hart, unerbittlich weist sie mir den Weg zur Tür. Im Hinausgehen werfe ich ihr einen schmachtenden Blick und ein verzweifelt-hoffnungsvolles "Ich komme wieder!" zu, um dann wie im Rausch aus dem Haus zu stürmen. Gott, war das schön, denke ich auf der Straße. Ich werde einen Grund finden, wieder zu ihr zu gehen, das weiß ich. Und wenn sie mich wieder wegschickt, werde ich mich einfach unter ihren Balkon stellen und so viele Schwalben, gefaltet aus Werken venezianischer Maler, zu ihr hochschicken, bis sie mich einfach lieben muss.
Mittwoch, 18. Juni 2008
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