Donnerstag, 5. August 2010

Hispania I: Relativität im Urlaub

Das erste, was ich als bleibende Lehre aus diesem Urlaub gezogen habe ist: Es kommt immer auf die Umgebung an. Alles Messbare lässt sich nur in Relation zu anderen Größen ausdrücken. Vermutlich hat Einstein sowas Ähnliches herausgefunden damals. Meine entsprechenden Erkenntnisse bezogen sich vor allem auf Alter, nationale Stereotypen und Körpergröße.
Fangen wir in der Mitte an, wo wir schon beim Urlaub sind. Ich bilde mir ein, ein ganz gutes Auge für die Nationalitäten von Menschen zu haben. Den Spanier an meiner Seite würde ich dem Ansehen nach nicht unbedingt für einen Spanier halten, wenn ich nicht wüsste, dass er einer ist. Er bindet kein schwarzes Haar zu einem Zopfe, kein schwarzer krauser Teppich will aus seinem obersten Hemdknopfloch, unter dem eine mahagonifarbene Haut durchscheint. Ich selbst wiederum werde gelegentlich für eine Südländerin gehalten – ich bin nicht blauäugig (dennoch auch nicht klein und schmal genug für die südländische Mode, erwähnte ich es?). Diese Einschätzungen bekamen wir von einer jungen Polin in Lissabon bestätigt, die auf die Auskunft über unsere Herkunft erstaunt zu Protokoll gab, an mich gerichtet: "Aber das kann doch gar nicht sein, Sie eine Deutsche und er ein Spanier. Sie haben doch eine dunklere Haut als er!". Offenbar kann der Augenschein aber auch ganz anders ausfallen, denn an anderer Stelle, im galizischen Lugo, man sprach über Hauttypen, erzählte eine befreundete Einheimische von einem Verwandten, dessen helle Haut sie offenbar geerbt habe, wiederum an mich gerichtet: "Und ich schwöre dir, der ist blonder als du!" Dazu muss man wissen, dass ich wirklich nicht besonders blond bin. Im Grunde bin ich eher die klassische Brünette. Aber es kommt eben auf das Bedürfnis der Umwelt nach einem jeweils gerade notwendigen Klischee an. Und da sind wir Deutschen dann noch am ehesten die Blonden. Vielleicht auch deshalb, weil es von uns mehr gibt als z.B. von den Schweden und wir international bekannter sind.
Und wir sind die Hochgewachsenen, während die Sonne des Südens zwar ein frohes Gemüt, dafür aber eine eher kleine Statur gedeihen zu lassen scheint. Auch da wurde ich bei unserer Reise in den spanischen Nordwesten der Relativität des scheinbar Offensichtlichen belehrt. In Deutschland oft belächelt, wenn er sagt, er sei gar nicht klein, wuchs mein Begleiter plötzlich, neben seine galizischen Landsleute gestellt, scheinbar an Zentimetern (freilich solange ich mich nicht selbst dazu stellte): Der Tankwart, der Nachbar, der Bäcker, alle waren plötzlich deutlich kleiner als er. Bei uns zu Hause bin allerdings ich diejenige für die hohen Schränke, ganz dem Klischee gemäß.
Das mit dem Alter schließlich hatte ich schon vorher bemerkt. Ich habe mir seit frühester Kindheit viele Gedanken um mein eigenes Alter, das anderer Menschen und das der Menschheit an sich gemacht. Begierig wartete ich jeden Tag darauf, endlich ein Jahr älter zu werden und nannte schon ab dem Verstreichen des sechsten Monats eines Lebensjahres stets das nächsthöhere. Seit einiger Zeit erst bin ich von diesem Brauch abgewichen, was wohl mit dem tatsächlich zunehmenden Verstreichen der Lebensjahre zusammenhängt. Jedenfalls weiß ich bis heute eigentlich immer auf den Tag genau, wie alt ich bin. Nicht so der Spanier an meiner Seite – nennen wir ihn doch ab jetzt Sergio; das ist der spanische Vorname, der von allen deutschen Fußballkommentatoren im Fernsehen immer italienisch ausgesprochen wird.
Sergio also, so dachte ich zunächst, als wir uns gerade kennen lernten, verschleiert sein Alter gern. Macht sich vor allem gern jünger. Als er das erste Mal in meiner Gegenwart danach gefragt wurde, gab er sein Alter um eineinhalb Jahre niedriger an als der Wahrheit entsprechend. Zuerst empört, stellte ich bald fest: Er weiß es nicht besser. Es ist ihm nicht in jedem Moment präsent, wie alt er nun gerade ist. Manchmal, wenn man ihn nach seinem Alter fragt und ich dabei bin, schaut er unsicher zu mir. 37 +/- 3, was macht das schon aus? Er hat sein eigenes Älterwerden nie sonderlich interessiert verfolgt. Aber dafür bin ich ja da, ich kenne sein Alter seit unserem ersten Treffen ebenso auf den Tag genau wie meins.
Kürzlich, in Santiago, bekam ich allerdings den endgültigen Beweis dafür, dass er auch mein Alter nicht genau kennt. Und das in einem schicksalhaften Moment: Ich entdeckte im Spiegel mein erstes graues Haar. Ergriffen und etwas betrübt seufzte ich: "Und dabei bin ich doch noch keine zwei Monate lang einunddreißig." Er stutzte, schaute mich lange ungläubig an. "Bist Du sicher? Ich dachte, du bist dreiunddreißig." Langsam wird es mir zu bunt. Vor drei Monaten hat er mich noch auf zweiunddreißig geschätzt. Wie soll das werden, wenn er mich mal als vermisst melden will und mein Geburtsdatum angeben muss? Ich würde meine Entführer bitten, ihm freundlicherweise meinen Personalausweis dazulassen. Vielleicht lässt mich aber auch mein erstes graues Haar gleich älter erscheinen.
Ich fasse also die Lehren aus diesem Urlaub zusammen:
- Es gibt keine Großen und keine Kleinen, der Mensch lebt in einer Art Bluebox, der Hintergrund bestimmt den Gesamteindruck. Gleiches gilt für Haut- und Haarfarbe. Gehen Sie als Brünetter nach Schweden und Sie sehen aus wie ein moslemischer Terrorist.
- Das Egalsein des Alters wäre wohl ein erstrebenswertes Gesellschaftsziel; manch einer hat es schon erreicht. Wenn das Alter allerdings völlig relativ und egal ist, verlieren eine Menge Menschen ihren Arbeitsplatz und eine Menge Dinge ihre Bestimmung. Die Kosmetikindustrie. Die Schönheitschiurgie. Damit etliche Rubriken der Klatschblätter. Die Frauenzeitschriften für Frauen ab 40. Die Mode für Best-Agers. Ach, die Kette wäre endlos fortzuführen. Ich weiß nicht, ob ich an all diesen Einbrüchen und der daraus resultierenden Wirtschaftskrise Schuld sein will, denn ausbaden müssen es ja doch wieder wir jungen Leute (ha, richtig gedacht: Sind wir jung?). Ich werde deshalb weiter mein Alter im Blick behalten und das von Sergio dazu. Vielleicht kann er sich ja irgendwann wenigstens mein Sternzeichen merken.

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