Schließlich habe ich dann doch begriffen, warum mir das alles geschehen war. Der Heilige gab mir einen Wink und ließ mich mein Fehlen erkennen. Und er war dabei ganz schön spöttisch. Okay, Christoph, du hast gewonnen. Ich werde dir künftig zu gegebener Zeit huldigen, darfst dir auch immer eine Opfergabe aussuchen. Nur Menschenopfer sind nicht drin, das wirst du wohl verstehen.
Es fing an mit Kaffee und Zigaretten. Nein, angefangen hatte es noch früher, mit der durchwachten Nacht davor. Ich musste am Morgen ungewöhnlich früh raus, weil ich dummerweise meinen Flug nach Wien von Köln aus gebucht hatte (alte Gewohnheit), und da muss man auch erst mal hinkommen von Hamburg aus, und vor lauter Angst zu verschlafen schlief ich dann überhaupt nicht. Nicht ein Viertelstündchen. So geschlaucht quälte ich mich über die Zugstrecke und wollte, endlich am Köln-Bonner Flughafen angekommen, erst mal eine Zigarette. Mein Luxusartikel in stimmungsgeladenen Situationen (der schönen wie der unschönen Art). Hatte aber keine. Einen Automaten gab es trotz strengen Nichtrauchergebots, aber Kleingeld hatte ich auch keins. Naja, dann hol ich mir halt noch einen Kaffee und wechlse dabei den Schein, dachte ich mir. Und verstieß widerwillig gegen eins meiner ethischen Prinzipien, indem ich mich beim völlig überteuerten Ami-Milchschäumer Starbucks anstellte. Der Milchschäummann war einer vom Typ des jungen, dunkelgelockten Schönlings mit Latinowurzeln; hübsch anzusehen, aber wenig nützlich (wie es oft ist mit schönen Dingen). Die Bedienung meiner Schlangenvorsteher dauerte derart lange, dass ich schon überlegte, wieder zu gehen. Mit der Dame vor mir gab es peinliche Verwirrung, weil er ihr einen "Vanilla Latte" partout nicht als "Milchkaffee Vanille" verkaufen wollte. Ich war auf ihrer Seite, bin ich doch gegen die sinnentleerende Inflation des feinen, kleinen italienischen Wortes latte.
Schließlich kam ich an die Reihe und machte den Fehler, gleich drei Dinge auf einmal zu wollen: Einen Milchkaffee, einen Schokocookie (konnte nicht widerstehen) zum Mitnehmen und, da es damit zu teuer geworden war, um von fünf Euro noch Zigarettengeld rauszubekommen, meine sechs Euro Restgeld vom Zehner in Münzen. Ich musste vier Euro zehn zahlen und gab ihm zehn Euro zehn. Das war zu viel für den Milchschäumer. Er starrte mein Geld verständnislos an und verweigerte mir den Wechsel mit den Worten: "Nein, also das kann ich Ihnen jetzt nicht alles wechseln, weil ich das einfach brauche." Ungläubig versuchte ich ihm zu erklären, dass es sich doch lediglich um sechs Euro in Münzen handelte und bemühte mich dabei um Fassung sowie darum, ihm nicht ins Gesicht zu schmieren: "Hör mal, Milchkaffeeschaumgesicht, ich hab mich extra in deiner blöden Schlange angestellt und bezahle extra viel zu viel für deine blöde Schoki und deinen blöden Milchschaum, weil ich mir Zigaretten kaufen und jetzt sofort da draußen eine rauchen will, und da lasse ich mir von dir nicht erzählen, dass du keine sechs Euro Wechselgeld entbehren kannst!" Irgendwie hatte er das mit den sechs Euro wohl nicht so recht verstanden und gab sie mir schließlich, vergaß aber darüber, was ich bestellt hatte und servierte mir den Cookie auf einem Teller statt zum Mitnehmen. Unwillig, das nun auch noch zu beanstanden, aß ich schnell das Gebäck auf dem Amisofa und stürmte dann gleich zum Zigarettenautomaten, wo ich aus lauter Überreizung die falsche Marke kaufte, nur weil beide Schachteln rot waren. Dergleichen passierte früher nur meiner Oma.
Endlich in Wien angekommen, wollte ich dann gern entspannen und dachte, jetzt kann's losgehen, vier Tage lang nur schöne Dinge tun! Das tat ich dann zweifellos auch, nur wurde meine Freude daran, schöne Dinge zu tun, durch die Tatsache geschmälert, dass ich dabei nicht schön sein konnte. Meine Kontaktlinsen hatte ich nämlich in Hamburg vergessen. Jede Kontaktlinsenträgerin (vielleicht sogar jeder Kontaktlinsenträger) wird mein Leid nachvollziehen können. So sehr ich zu meiner Brille stehe, gehört sie doch nicht zum Freizeit- und Ausgehoutfit.
Den richtigen Verdacht, dieser Kurzurlaub stehe unter einem Fluch, schöpfte ich aber erst, als noch zwei weitere Missgeschicke passierten: Am vorletzten Abend steckte mein Finger nach abendlicher Taxiheimfahrt in der Taxitür. Zum Glück lag genug Schnee zum sofortigen Kühlen. Am nächsten Tag, ich kaufte noch mal ordentlich Bücher ein, um das Reisegepäck auch schön zu beschweren, war ich pleite. Meine Karte konnte die Bücher nicht mehr zahlen. "Limit erreicht?", meinte die Verkäuferin mit mildem Lächeln, "Kann eigentlich nicht", erwiderte ich scheinbar unberührt (das sage ich immer, wenn meine Karte kein Geld mehr hergibt und ein Verkäufer das Dispolimit vermutet, wer will sich schon die Blöße geben; ich dachte nur, sowas passiert mir nicht mehr, so lange nach Ende des Studentenlebens) und ließ dankend meinen lieben Freund Bene bezahlen.
Von Wien ging es dann gleich weiter zum Kölner Karneval, um ein Hoch auf die alte Heimat zu singen - ohne Kontaktlinsen und ohne Geld. Beste Voraussetzungen. Aber es kam ja noch besser: In der Vorbereitung der Nachttoilette bei Freundin Alice in Köln stellte ich fest, dass ich meinen Kulturbeutel in Wien vergessen hatte. Das mag den männlichen Lesern nun nicht weiter dramatisch erscheinen, viele männliche Leser besitzen vermutlich gar keinen Kulturbeutel, aber die meisten Frauen werden mit mir fühlen: Nur ein Tag ohne die Produkte der Reinigungs- und Kosmetikindustrie, vor allem ohne Zahnbürste, kann die Hölle sein! Man fühlt sich dem Schmutz des Lebens hilflos ausgeliefert, ohne Aussicht auf die reinliche Wohligkeit in der heilen Zelle der abendlichen Toilette. Glücklicherweise aber haben Mädchen ja in der Regel alles, was andere Mädchen auch haben. Das schätze ich so an Frauenhaushalten: Immer alles da. Auch Extrazahnbürsten. (Bei der Gelegenheit fällt mir auf, dass das auch mal ein schönes Thema für einen Post wäre: Wann hören wir auf, Mädchen/Jungen zu sein und werden zu Frauen/Männern? Ich lade alle Leser herzlich zu Kommentaren ein.)
In den folgenden zwei Tagen lernte ich dann, wie gut es ist, wenn es Leute gibt, die einem vertrauen und einem das vorübergehende Leben auf Pump erlauben. So lieh ich mich durchs jecke Rheinland, kaufte mir vom geliehenen Geld ein Nivea-Reiseset für Frauen und sah in den Abendstunden in der Regel wenig, weil ich zu eitel für meine Brille war. Übrigens - überrascht's noch wen? - vergaß ich meine Lieblingsjacke und meine Lieblingsringe bei Alice in Köln.
Die Erkenntnis dämmerte mir dann im heimischen Moers, wo ich zwischendurch eine alte Freundin besuchte. Als ich in ihr Auto stieg, fiel mir die kleine runde Plakette mit dem heiligen Christophorus, dem Schutzpatron der Reisenden auf, die dort an der Armatur klebte. Die hatte ich vorher schon einmal im Auto eines Bekannten gesehen und sie dort schon unzeitgemäß gefunden. Nun fragte ich leicht spöttelnd meine Freundin, warum denn gerade sie so eine Plakette habe, sie sei doch sonst nicht so gläubig. Sie gab an, ihr verstorbener Mann habe ihr die Plakette zusammen mit dem Auto geschenkt, und der sei sowohl aber- als auch gläub-ig und -isch gewesen und könne es ja nur gut gemeint haben. Ich fand das Schutzheiligengehabe trotzdem überholt, ging aber nicht weiter darauf ein. Doch tief in mir regte sich etwas, eine Ahnung und ein Schuldgefühl.
Da ich aber offenbar immer noch nicht ganz verstanden hatte, setzte der eitle Sankt Christophorus noch einen drauf und ließ den Bahnautomaten auf der Rückfahrt in den Norden meine Kreditkarte nicht akzeptieren und stattdessen meine letzten, aber auch wirklich allerletzten geliehenen 30 Euro in bar fressen. Somit kehrte ich denn ohne einen Pfennig, ohne Kontaktlinsen, ohne Kulturbeutel und ohne Lieblingsjacke nach Hamburg zurück. Und seit heute hat der Herr Schutzpatron noch eine dicke Erkältung mit schmerzenden Mandeln und Ohren hinterhergeschickt, die mich nun voll Demut diesen Eintrag vom Krankenbett aus schreiben lässt. In Ordnung, Herr Heiliger. Ich will nie wieder über dich spotten. Gleich morgen gehe ich zum Schutzpatronplakettenladen und klebe mir dein Konterfei mitten auf die Stirn. Reicht dir das?!
Donnerstag, 26. Februar 2009
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