Donnerstag, 12. März 2009

Besoffene Vögel mit Hauben

Es ist doch erstaunlich, wie lange der Mensch mit Überzeugungen durch die Welt laufen kann, ohne sich jemals von ihrer Richtigkeit zu überzeugen. Ich erinnere mich da an eine ältere Dame, die etwa um die Jahrtausendwende vor mir in der Schlange am Postschalter stand. Als sie an der Reihe war, wollte sie dem Postbeamten nicht glauben, der ihr sagte, diese Postleitzahl sei falsch, die gebe es nicht mehr. Sie habe aber immer an diese Postleitzahl geschrieben, beharrte die Dame. Vielleicht hatte sie nie überprüft, ob ihre Post auch ankam in den sieben Jahren davor. Oder sie hatte seit der Umstellung auf die fünfstelligen Postleitzahlen 1993 einfach keinen Brief verschickt.

Bei mir dauerte die Zeit bis zur Fehlerrealisierung allerdings noch etwas länger, nämlich mein ganzes bisheriges Leben – immerhin bald 30 Jahre – minus ein paar Tage. In dieser ganzen Zeit war ich der festen Überzeugung, eine Haubitze sei ein kleiner mitteleuropäischer Singvogel mit haubenähnlichem Kopffederwuchs. Ähnlich wie die Elritze, von der ich immerhin mit Sicherheit weiß, dass sie ein Fisch und somit dem Tier-, wenn auch nicht dem Vogelreich zuzuordnen ist. Rehkitze, Kiebitze, Elritze, Hundezitze – bei so vielen „itzen“ in Deutschlands Fauna konnte auch die Haubitze für mich nur dort beheimatet sein.
So hatte ich denn jahrzehntelang immer dann, wenn der inzwischen etwas antiquierte Kommentar „Er/sie/wir war(en) voll wie eine Haubitze“ fiel, folgendes schöne Bild im Kopf: Die betreffenden Personen saßen, zu kleinen hübschen Singvögeln mit Menschengesichtern und haubenähnlichem Kopffederwuchs mutiert, volltrunken und schwankend mit ihren Singvogel-Saufkumpanen auf überirdischen Stromleitungen und bogen sich vor Lachen oder sangen beschwipste Lieder, und manchmal fielen sie auch von der Stromleitung, weil sie so besoffen waren. Warum gerade den Vogel Haubitze ein solcher Hang zum übermäßigen Alkoholkonsum kennzeichnen sollte, war mir schleierhaft – aber wer denkt schon über die Bedeutungsherkunft jedes einzelnen Sprichworts nach.
Neulich dann, kurz nach Karneval, redeten meine Mitbewohnerin (eine echte Norddeutsche) und ich über eben jenes Volksfest. Dass dort eine Menge Alkohol konsumiert wird, ist in der Regel Thema Nummer eins, gerade wenn man mit Nicht-Karnevalisten darüber spricht. In diesem Zusammenhang entfuhr mir die Redewendung, die ich eigentlich für antiquiert halte und so gut wie nie benutze, dann aus nicht erkennbarem Grund: „Klar sind alle voll wie die Haubitzen“, oder etwas Ähnliches. Wahrscheinlich dachte ich unbewusst daran, dass im Karneval ja auch viel gesungen wird, und dabei fielen mir meine singenden Haubenvögel ein. Und abends im Bett dachte ich dann, was ich schon ein paar Mal in meinem bisherigen Leben gedacht, dann jedoch nie in die Tat umgesetzt hatte: Du musst doch einmal nachschauen, ob eine Haubitze wirklich ein Vogel ist. Irgendwie schwante mir wohl schon länger, dass sich meine Überzeugung nicht auf verifizierter Erfahrung, sondern rein auf intuitiv motivierten Vermutungen gründete. Und schaute tags darauf nach, natürlich in der gütigen Mutter aller Informationsquellen, unserer schönen Wikipedia. Und da sah mich dann drohend vom Foto ein riesiges, auf einen Panzer montiertes Kanonenrohr an! Kein Haubenvogel, sondern ein „Artilleriegeschütz“! Nicht niedlich, sondern tödlich! Kein Gesang, sondern Geschosse! Und „voll“ konnten die älteren Haubitzen wohl vor allem deshalb sein, weil in sie ordentlich dicke Kanonen gestopft wurden.
So ist denn, wenige Monate bevor ich mein drittes Lebensjahrzehnt beschließe, meine Gedankenwelt wieder um eine schöne Illusion kindlicher Unschuld ärmer geworden. Ja, ich weiß, Desillusionierung gehört zum Erwachsenwerden wie die Krise zum Börsenboom. Alkoholkonsum hat im kulturellen Gedächtnis des Volksmundes nichts mit Singen, dafür einiges mit Krieg zu tun. Als ich dies erkannte, nahm ich eine Flasche Fernet Branca (da ist immerhin ein Vogel drauf) und trank, bis ich voll war wie ein Kanonenrohr.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ein schöner Eintrag, Frau Noelle! Zu dem wohl jeder so seine ein oder andere Parallele findet. Als ich kürzlich meiner erzieherischen Tätigkeit, mit einem "gleich is hier abba zappenduster!", Nachdruck verleihen wollte und die gewünschte Reaktion ausblieb(ein müder Grinser war alles), waren Frust und Selbstzweifel groß. Aber dann ging mir auf, dass mich natürlich keine Sau (noch Kind) verstand!Ich selber hatte ja auch keine Ahnung, was ich da von mir gab! Das macht natürlich wenig glaubwürdig...noch ist´s der natürlichen Autorität zuträglich! Also wat soll das eigentlich heißen "zappenduster"? Da ich aus Kindheitstraumatagen mal alles in Richtung Mittelalter stecke (nach der xten Schlossbesichtigung konnt ich schon früh mit Wissen, um Hunde auf die man kommen konnte oder der Nutzen einer Hohen Kante, protzen)aber mit dieser relativ einseitigen Herangehensweise war keine Erleutung in Sicht. "rappenduster" hätte dann ja noch einigermaßen Sinn ergeben, aber "zappen"..da fiel mir nur die Fernbedienung ein ..und das Internet gab mir auch nur Antworten, die ich nicht schön genug fand. Also beschloss ich meinen beschränkten Horizont zu akzeptieren und mich auf Schusters Leisten zu besinnen. Beim nächsten Versuch war ich dann gut vorbereitet (und das ist in Rage ja top), freute mich insgeheim schon auf meinen verbalen Krieg- Sieg, brachte mich in Position(ich sah sehr überzeugend aus!) und versuchte es mit einem: "gleich lernse mich mal kennen!" ....wieder dieser doofe Grinser..."wieso, ich kenn Dich doch"... (und das von jemandem mit 55 Kühen im Kopf)
Probiers jetzt mal mit Kinderladen und antiautoriär...hat ja so keinen Zweck!

P.s.: aber das mit dem Fernet ist ja wohl hoffentlich nur Schreiberlings Freiheit, oder?! Du bist ja pervers! Da hätte ja sogar meine Wenigkeit 40prozentig 2 Tage flach gelegen!

Bis neulich, Alder

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