Montag, 13. Juni 2011

Kritik des unreinen Schlafanzugs


Der geneigte Leser mag sich wundern, warum mich hier im herrlichen Venedig scheinbar nichts anderes umtreibt als Kleidungsstücke an Tieren und Menschen. Ich mache hier aber diesbezüglich auch unglaubliche, nie vermutete Erfahrungen, wie man mir nach der Lektüre des letzten Beitrags schon beipflichten wird – und es geht noch weiter.
Ich wohne nun hier, eigentlich ganz gegen meine Überzeugungen, aber für meine Geldbörse, in einem katholisch geführten Studentinnenwohnheim (ja, die Haustür wird tatsächlich um Mitternacht verschlossen, aber man darf sich einen Nachtschlüssel leihen). Der Kenntnislose wird sich bei dieser Bezeichnung gleich allerhand vorstellen: Ein Wohnheim voller katholischer italienischer Studentinnen, oh là là, das kann nur heißen: Horden von eleganten, schönen, stets gepflegten und in besten Zwirn gekleideten Südländerinnen, die gern mal lachend ihr traumhaft lockiges Haar schütteln, ansonsten aber züchtig den Blick gesenkt halten und sonntags brav zur Messe gehen. Sogar ich stellte mir ähnliche Dinge vor und packte ängstlich meine schicksten Kleidungsstücke, zwei Sonnenbrillen und allerhand Kosmetika ein, um mich nur ja nicht zu blamieren vor den mich ständig umflatternden grazilen Schönheiten.
Im neuen Heim angekommen, bekam ich dann aber einen gänzlich unerwarteten Kulturschock: Die Tatsache, dass die hauseigene Kapelle lediglich für (weltliche) Gruppentreffen und Filmvorführungen genutzt wird und auch sonst der Katholizismus in diesen Mauern ein sehr verstecktes Dasein führt, erleichterte mich ja noch. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten aber erschloss sich mir zum ersten Mal, was sich dann mehr und mehr als hausinterne, omnipräsente Regel erwies: Die junge italienische Frau von heute sieht nicht nur kein bisschen aus wie Berlusconis Ruby, sie verbringt zudem ihr gesamtes Heimleben im Schlafanzug. Und da die italienische Studentin durchaus nicht jeden Tag an die Uni muss, sondern sich gern ganztags dem häuslichen Studium widmet, kommt es des öfteren vor, dass der Schlafanzug das einzige Kleidungsstück bleibt, das im Laufe von 24 Stunden ihre jugendliche Haut berührt. Und wenn ich sage Schlafanzug, dann meine ich nur in den günstigsten Fällen eine Untertreibung für Jogginganzug. Bitte: Haben Jogginganzüge hellblaue Bärchen oder rosa Blumensträuße als Kleinmotivdruck?
Damit wir uns richtig verstehen: Auch ich trage Schlafanzüge. Ich trage sie nachts zum Schlafen, wie der Name schon vermuten lässt. Manchmal frühstücke ich sonntags im Schlafanzug, wenn ich mir ein Gefühl von zeitlicher Freiheit geben will. Zuweilen bleibe ich auch krankheitsbedingt den ganzen Tag im Bett und habe dabei einen Schlafanzug an, im Winter sogar zwei, gegen die Kälte. Ansonsten aber pflege ich den Schlafanzug tagsüber gegen sogenannte Straßenkleidung einzutauschen, auch wenn ich mich nicht den ganzen Tag auf der Straße bewege. 
Dass das Wechseln der Straßen- gegen bequeme Hauskleidung nach dem Betreten der heimischen vier Wände eine vor allem im Mittelmeerraum verbreitete Sitte ist, erschloss sich mir schon bei anderen Kontakten mit den dortigen Kulturen. So zum Beispiel, als mir eine in Spanien lebende deutsche Bekannte erzählte, mit welcher nervösen Inbrunst ihre Schwiegermutter sie aufgefordert habe, sich doch daheim endlich etwas Bequemes anzuziehen, nachdem sie schon eine halbe Stunde herimgekehrt war und immer noch Rock und Strumpfhose trug. In ihrem spanischen Dorf war der Jogginganzug das an tagsüber auf der Straße herumsitzenden Männern meistgesehene Kleidungsstück. Diese Einstellung hat vielleicht etwas mit der auch hierzulande nicht unbekannten Angst zu tun, das was man zu Hause trägt, könnte durch Kochen oder andere Heimaktivitäten dreckig werden. Meine Großmutter trug aus diesem Grund meist eine Kittelschürze – ein heutzutage nahezu verschwundenes Kleidungsstück. Darunter pflegte sie, zumindest im Sommer, nur ihre Unterwäsche zu tragen, die Kittelschürze ersetzte gern die übrige Kleidung. Und da meine Großmutter zur Generation der hauptberuflichen Hausfrauen gehörte, sich also recht viel zu Hause aufhielt, sah ich sie den Großteil meiner Kindheit praktisch nur in Kittelschürze. Wenn Oma dann einmal ausging – etwa mit mir zum Spielwarenladen, oder wenn sie Geburtstag hatte, zog sie sich schick an. Und ich entdeckte jedesmal nie gesehene Kleidungsstücke an ihr, hatten sie doch stets sauber und ordentlich gebügelt im Schrank gehangen. 
Abends jedoch zog meine Großmutter ihre Kittelschürze aus und tauschte sie gegen ein Nachthemd ein. Und genau deshalb überlege ich, meinen italienischen Wohnheimmitbewohnerinnen bei Gelegenheit den Kauf von Kittelschürzen als Ergänzung zu ihren Schlafanzügen vorzuschlagen. Denn was nützt das ganze Nichtbeschmutzen von schöner Straßenkleidung im Hause, wenn man nach einem langen, im Schlafanzug verlebten Tag diesen befleckt und/oder beschwitzt hat? Und sich dann – denn das ist doch wohl der eigentliche Skandal – mit ebendiesem befleckten und/oder beschwitzten Schlafanzug ins Bett legt und schläft, nur um am nächsten Morgen aufzustehen und möglicherweise wieder den ganzen Tag im selben Gewand zu verbringen? Übrigens wird in der italienischen Wohnheimküche gern mentalitätsgemäß mit schön viel Olivenöl gekocht, dessen Spritzer der Schlafanzug aus der guten supergekämmten Baumwolle dann ordentlich aufsaugt. 
Ich kann und musste also das gängige  und mein eigenes Bild der jungen italienischen Studentin korrigieren: Sie ist im Durchschnitt nicht hübscher als ihre zentraleuropäischen Pendants, dazu macht sie der Geruch nach Küche und Körperdunst, den sie in ihrem auch schon mal 48 Stunden lang getragenen Schlafanzug mit sich führt, nicht unbedingt sexier. Und wenn sie schöne Kleidung hat, dann trägt sie die bestenfalls mal sonntags zum Ausgehen, ansonsten hängt sie fein säuberlich im Schrank. Dort fehlt wiederum eins: die Kittelschürze. Ich propagiere die sofortige Wiedereinführung dieses Kleidungsstücks auf europäischem Niveau. Damit auch unsere südeuropäischen Nachbarn im Schlaf nicht mehr nach Küche riechen müssen.

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