Mittwoch, 30. April 2008

Frust und Frustabbau

Wir sind alle nur Menschen. Deshalb steht hier auch nicht der unterhaltsame, interessante und geniale Eintrag, den ich mir für heute vorgenommen hatte, sondern dieses Stück über persönliche und globale Frustrationen, dessen Notwendigkeit sich leider heute im Laufe des Tages immer mehr herauskristallisiert hat. Die eigentlich vorgesehene Geschichte kommt noch, keine Sorge. Aber erst mal sind die Emotionen wichtiger, und die kochten heute hoch.
Heute morgen in der Bahn las ich Günter Wallraffs neue Reportage über die Lidl-Brotbackfabrik. Wahnsinn, wie Wallraff es immer noch schafft, sich in solche Betriebe einzuschleusen, er sieht ja nun wirklich nicht mehr aus wie 50. Und was er immer noch bereit ist, auf sich zu nehmen. Nachhaltig prägt sich mir das Bild des Fabrikarbeiters ein, der schreiend in der Halle steht, weil er sich verbrannt hat, und keiner hilft ihm, aus Angst oder aus Gleichgültigkeit.
An meinem Arbeitsplatz geht es weiter mit den menschlichen Scheußlichkeiten: Ich habe den Allerwertesten voll Arbeit, weil Amstetten in Österreich liegt und Österreich in mein Gebiet fällt und der Inzest-Fall bei uns thematisiert wird. Nun soll es also dem Österreicher an sich angelastet werden, weil er ja doch irgendwie a Komischer is. So'n Quatsch, als ob das nicht sonstwo hätte passieren können, aber es herrscht halt Erklärungsnot. Die Anfragen werden immer mehr und immer absurder. Ich bin froh, als endlich Essenszeit ist.
Beim Kaffee aber passiert mein persönlicher Eklat: Während meine Kollegen noch in der Kassenschlange stehen, will ich schon mal rausgehen mit meinem Glas Apfelschorle in der Hand und einen Tisch auf der Terrasse suchen. Und in der vollen Überzeugung, vor mir liege die freie Luft, laufe ich raus - und voll gegen die Glasscheibe. Es gibt einen ordentlichen Rumms, Apfelschorle ergießt sich über meine Brust und die Scheibe, meine Stirn hinterlässt dort einen großen Abdruck (ich hoffe, die wischen das bis morgen weg), ich taumele benommen zurück, alles starrt mich an, ein Raunen geht durch die volle Bar. Augenblicklich durchfährt mich neben dem Schmerz heftige Scham. Die Tür, durch die ich überzeugt war zu treten, ist gute 2 Meter weiter rechts. Tränen schießen mir in die Augen, gutgemeinte Fragen nach meinem Wohlergehen weise ich ab, will nur raus hier, zur Terrasse. Auf dem Weg dorthin laufe ich ins nächste Fiasko: Ein Kamerateam einer norddeutschen Rundfunkanstalt will wissen, wie ich zur Geschäftsführung stehe, eine Frau streckt mir ein Mikrofon entgegen. Ich murmele unter Tränen und im Davonlaufen, dass ich dazu nichts sagen könne. Die Reporterin erblickt dann auch meine apfelschorlengetränkte Brust und sagt etwas wie "Ach nee, Sie ham sich da ja auch total..." Ich kann also jedem, der sich vor unangenehmen Fragen drücken will, nur empfehlen, sich einfach vorher mit Apfelschorle zu übergießen, möglichst an prominenter Stelle, und möglichst auch noch etwas weinerlich zu gucken.
Als meine Kollegen zu mir stoßen, muss ich kurz richtig losheulen, und in die Apfelschorle auf meinem Busen mischt sich Rotze. Letztere lässt sich hinterher leichter entfernen als die Schorle. Merke: Besser ordentlich heulen als mit Apfelschorle bekleckern. Das geht natürlich nicht recht mit der vorher gemachten Empfehlung zusammen, aber die Situationen sind ja auch verschieden.
Irgendwie, mit viel Kaffee, Durchhaltevermögen und Fluchen, stehe ich den Rest des Arbeitstages durch. Nicht gerade stimmungshebend wirkt die Tatsache, dass ich morgen trotz des Feiertags arbeiten muss, nachdem ich heute und gestern schon einige Überstunden gemacht habe. Doch ein Gedanke an Wallraffs Brotbackarbeiter lässt mein innerliches Murren fast verstummen. Und ich kann ja dem Frust entgegenwirken mit einem Mittel, das denen von ganz unten selten zur Verfügung steht: Konsum. Und das tue ich auf dem Heimweg, auch wenn es fünfzehn Minuten vor Geschäftsschluss ist, mir egal. Ich tue, was jede gefrustete Frau tut, um sich das gute Quäntchen ausgleichenden Glücks materieller Art zu verschaffen: Schuhe kaufen. Gestern gab's nämlich Geld. Und ihr könnt ruhig schon die Tür abschließen, ihr Verkäuferinnen, ich möchte auch um zehn vor sieben noch ordentlich bedient und beraten werden, dafür kauf ich ja auch eure blöden Schuhe und drei Paar Socken gleich dazu. Danach geht es mir schon besser. Vor der Heimkehr kaufe ich dann noch schnell einen Dreierpack Piccolo-Prosecco, angeblich del Veneto, glaub ich aber nicht, weil draufsteht "abgefüllt in Trier", bestimmt auch so eine Halsabschneider-Zulieferfirma. Egal, ich will einen trinken. Und ich trinke gleich zwei, zu Hause. Und esse und rauche. Dazu setze ich mich auf die Treppe zum Garten und höre den Vögeln zu, der Rhododendron blüht und die Sonne verabschiedet sich langsam. Puh. Friede, du bist wieder mit mir. Dann ziehe ich meine neuen Schuhe an - sie erfüllen den wunderbaren Kompromiss aus Schönheit und Komfort - und tanze darin, erst zu rockiger Rockmusik, dann zu souliger Soulmusik, und ich sah meinen Schuhen beim Tanzen zu und sah, dass es gut war. Und jetzt höre ich ganz ruhige Musik, habe meine schönen neuen Schuhe an, bin a bisserl beschwipst und denke: Dank dir, Konsum. Du hast mich gerettet. Und mich packt ein leises schlechtes Gewissen gegenüber den Brotfabrikarbeitern und den Kindern im Keller. Kommt, wir spenden ihnen allen Sekt und Schuhe.

Donnerstag, 24. April 2008

Endlich ganz erwachsen!

Ja, da hat sich die Vollendung meiner Adoleszenz nun doch noch ein paar Tage hingezogen. Schuld waren mal wieder die Irrungen und Wirrungen des Zeitgeistes. Aber hier kommt er, der zweite und letzte Teil des ersten Fortsetzungsposts auf Septentryo:

Ich komme nach sagenhaften 2 Minuten dran. Die Frau ist sehr freundlich, druckt mir einen neuen Aufkleber für meinen Ausweis, und ich weiß, jetzt muss ich zur Maschine draußen und 11 Euro zahlen für eine Marke, mit der ich dann noch mal zu ihr zurück muss, war beim letzten Mal auch so. Aber ich tu erst mal so als wüsste ich von nix, lehne mich zurück und versinke in Wartehaltung. Nach etwa einer Minute hüstelt die Frau und sagt lächelnd, „Das war’s.“ Wie? Was? Fertig? Ich muss nicht warten, keine 11 Euro zahlen, es gibt keine feierliche Zeremonie? Immerhin bin ich gerade von einer Neben- zu einer Hauptbürgerin Hamburgs gemacht worden, zum ersten Mal in meinem Leben befindet sich mein Hauptwohnsitz außerhalb Nordrhein-Westfalens! Und es gibt gar keine Glückwünsche, kein warmes Willkommen, keinen Fanfarenklang? Das ist wohl, denke ich im Hinauseilen, auch ein Nebeneffekt des Erwachsenwerdens (das ja in meiner Generation meist erst um die 30 ernsthaft angegangen wird): Die Behördengänge werden zahlreicher und immer unspektakulärer, was uns vor zehn Jahren noch als kleine Revolution gegolten hätte, wird nun im Vorbeigehen erledigt und verschwindet im Trott der Alltäglichkeit.
Das Erwachsenwerden wird dann auch noch ganz schön anstrengend für Körper, Geist und Geldbeutel an diesem Nachmittag: Nachdem der Corolla und ich wieder beim TÜV Hanse angekommen sind (der Kleine freut sich schon, denkt wohl, wir wohnen jetzt hier, auf dem schönen großen Parkplatz), ich eine neue Nummer gezogen habe, die nur noch 20 entfernt ist von der gerade in Bearbeitung befindlichen und noch einmal 45 Minuten gewartet habe, ist es soweit: Kurz vor Erreichen seiner Volljährigkeit wird der Corolla Hamburger Bürger, so wie ich es am selben Tag geworden bin, um ihn dazu machen zu können. Für den neuen Bürgerstatus muss Muttern ordentlich in die Tasche greifen, zum Glück geht alles mit Karte, merkt man ja dann gar nicht. Als ich raus zur Schildermacherin will, regnet es in Strömen. Egal, denke ich, habe schon so lange gewartet, und stapfe raus, die Schildermacherin findet mich dafür „mutig“ und ich erkläre, dass ich einfach keine Lust mehr auf Warten habe. Dann gehe ich auch im strömenden Regen wieder raus und montiere die neuen Schilder. Das ist gar nicht so einfach, die sind mit Schrauben festgemacht, ich muss erst mal den passenden Schlüssel finden, die alten ab- und die neuen anschrauben, vorher aber noch mal das Stanzloch vergrößern, das alles wohlgemerkt im strömenden Regen. Binnen zwei Minuten bin ich völlig durchnässt. Der Schraubschlüssel fällt mir ein paarmal aus den glitschigen Händen. Und während ich da so im Regen hocke und schraube und frickle, merke ich vage unter meiner Kapuze, dass mich jemand beobachtet. genau genommen beobachtet er mein Auto. Das merke ich daran, dass nach ein paar Sekunden eine Stimme mit einem in Deutschland weit verbreiteten fremdländischen Akzent fragt: „Wollen Sie verkaufen?“ Nun muss man wissen, dass ich ständig von männlichen Vertretern der größten ethnischen Minderheit in Deutschland gefragt werde, ob ich mein Auto verkaufen wolle. Und etwa alle zehn Tage steckt ein Kärtchen an der Fahrertür, das mich auf die Supergelegenheit zum An- und Verkauf von Gebrauchtwagen aller Marken und jedes Zustands hinweist. Und auf die mündliche Anfrage folgt dann immer die Erklärung: „Isch kaufe solsche Auto für meine Land, da ist noch gut.“ Aha. Da ist also noch gut. Und für mich nicht mehr, oder was? Ich sehe also aus, als hätte ich die Taschen voller Geld für einen neuen Leasingwagen jedes Jahr und als führe ich dieses Auto nur spazieren, damit endlich mal ein Händler von östlich des Bosporus kommt und die Scheißkarre ins wilde Anatolien bringt, diesen Schandfleck meines bürgerlichen, arrivierten Lebens?! Meine Herren Händler, es sei hier ein für alle Mal deutlich gesagt: Ich fühle mich verdammt noch mal diskriminiert! Auch ich als Deutsche ohne Migrationshintergrund darf ein demnächst volljähriges Auto fahren! Ich habe eine enge Beziehung zu diesem Wagen! Und ich möchte ums Verrecken nicht mehr gefragt werden, ob ich ihn verkaufen wolle, sondern ihn bis zu seinem wohlverdienten Ruhestand fahren!
Der junge Mann auf dem Parkplatz vom TÜV Hanse bekommt dann auch ein recht unfreundliches „Nein. Werde ich ständig gefragt“ von mir durch den Regen hingeworfen. Pause. Er bleibt stehen und wartet. Worauf bloß? „Dann wollen Sie doch nicht verkaufen?“ – „NEIN!!“, schleudere ich ihm entgegen. ‚Doch nicht’! Ha! Superstrategie, immer schön suggestiv den potenziellen Handelspartner von dem überzeugen, was er nie gesagt hat. Er gibt auf, wünscht mir einen schönen Tag, lässt mir Gott sei Dank nicht seine Karte da und dampft ab.
Ich bin dann auch endlich fertig mit den Schildern und betrachte zufrieden das Ergebnis. HH-IE 898, so heißt der Corolla jetzt offiziell. IE, gleich zwei Vokale, und das in einer so konsonantenreichen Sprache wie dem Deutschen! Ich steige ein, streiche mit meinen nassen, verdreckten Händen zärtlich übers Lenkrad und sage mit Freude und Stolz in der Stimme: „Siehst du, Corolla, jetzt sind wir beide Hamburger. Wir sind jetzt keine Westdeutschen mehr, sondern Norddeutsche. Ich bin jetzt quasi offiziell deine Mama. Ich war heute dreimal auf zwei verschiedenen Ämtern, bin Mitglied in einem Verkehrsschutzverein geworden, habe Schilder gestanzt sowie an- und abgeschraubt, eine Menge Geld bezahlt und einen unliebsamen Händler abgewimmelt. Sowas machen nur Erwachsene.“ Der Corolla schweigt nachdenklich, er muss die ganze Aufregung dieses Tages wohl auch erst mal verdauen. In Gedanken versunken machen wir uns auf den Heimweg, einem sich nunmehr lichtenden abendlichen Horizont entgegen.

Montag, 21. April 2008

In einem Tag erwachsen

Das hier Berichtete liegt nun auch schon wieder eine Woche zurück; es geschah vergangenen Montag, an meinem Hamburg-Montag, dieser (der heutige) Montag war wieder ein Köln-Montag (genauer gesagt war er ein Köln-Aachen-Münster-Hamburg-Montag, aber das ist eine andere Geschichte). Aber das Ergebnis der zu berichtenden Ereignisse hat nicht an Aktualität verloren, umso weniger, da es eine dauerhafte Veränderung in meinem Leben darstellt: Letzten Montag wurde ich erwachsen.
Nun könnte man denken, ich sei auf die Idee zu diesem Eintrag gekommen, weil Matthias Kalle das Thema im aktuellen Zeit Magazin behandelt (schöner Artikel übrigens, wenn ich auch nie so genau weiß, ob ich nun zu Kalles vielbeschworener Generation gehöre oder nicht, er ist vier Jahre älter als ich und Florian Illies ja noch mal drei Jahre älter. Den vier Jahre Jüngeren habe ich mich allerdings bisher selten verbunden gefühlt und den sieben Jahre Jüngeren noch seltener). Aber, verehrtes Publikum, ich versichere Ihnen: Die Idee hatte ich schon letzten Montag. Nur wie üblich bisher keine Zeit, sie aufzuschreiben (nein, keine Angst, es kommt nicht schon wieder ein Eintrag über die vermaledeite Zeit, sie spielt hier nur eine ganz kleine Nebenrolle). Und das Thema bekommt natürlich bei mir eine ganz andere Note, Blogthemen sind wie Wundertüten, meistens ist was drin, was man überhaupt nicht erwartet (und auch nicht will).
Es begab sich also zu jener Zeit, dass ich den Corolla endlich auf mich anmelden wollte. Bisher gehörte er ja quasi noch Papa. Und da mein Leben inzwischen einen merkbaren Fokus in Hamburg hat, hatte ich beschlossen, das Auto gleich mit seiner neuen Identität dort zu verankern. Ich war bestens auf dieses Unternehmen vorbreitet, da ich erst zwei Wochen zuvor beim TÜV Hanse, Prüfstelle Hamburg-Harburg, gewesen war und der nette Tüvdoktor den Corolla ganz ohne Bohren und ohne Verordnung behandelt und entlassen hatte. In der Zwischenzeit hatte ich in mühsamer Kommunikationsarbeit alle für die Ummeldung nötigen Papiere zusammengesucht und besorgt.
Ich also mit dem Corolla wieder zum TÜV Hanse, Prüfstelle HH-Süd, wir kennen den Weg ja schon, der Corolla macht auch gar keine Probleme, sondern brav draußen Platz. Ich gehe ganz professionell rein, lasse mir durch nichts anmerken, dass ich Behördengänge hasse und von Autos keine Ahnung habe, und ziehe wie im Vorbeigehen eine Wartenummer. 517, gerade dran ist 468. Das kann dann wohl dauern. Prompt lasse ich mich mit meinem Gesicht der Orientierungslosen von dem ADAC-Vertreter anquatschen, einem recht alten Herren, er macht das entweder aus ehrenamtlicher Leidenschaft oder weil die Rente nicht reicht und er sich noch was dazuverdienen muss. Von mir aus könnten wir das Ganze in zwei Minuten hinter uns bringen, ich will ja die Mitgliedschaft, und zwar den Standard für Normalverbraucher und Unverheiratete. Aber er will unbedingt das große Programm abspielen, bisschen den Kunden hofieren, bisschen Nähe schaffen natürlich, immer wieder mal einen Schwank aus dem eigenen Leben erzählen, beiläufig natürlich seine Firma preisen. Ich lasse ihm den Spaß, solange es meine Geduld zulässt, werde aber zunehmend einsilbiger. Komm, gib her den Scheiß und den Kuli dazu, will ich ihm sagen, beherrsche mich aber. Und er stockt dann wohl auch, weil er nicht so recht zu wissen scheint, in welche Bevölkerungsgruppe er mich einordnen soll. Taktik ist ja, das habe ich an mehreren Beispielen vergleichbarer Art erfahren, Frauen in meinem Alter erst mal (zumindest der potenziellen Kundin gegenüber) als verheiratet einzuschätzen. Oder das liegt einfach an meiner unglaublich seriösen Art, ich seh wohl doch eher spießig aus (womit ich nicht unbedingt sagen möchte, dass ich heiraten spießig finde). Ich verneine diesen Zivilstand, und dann druckst er doch tatsächlich rum bei der Frage, ob’s bei mir – das heißt von mir – Kinder über 17 Jahre gibt. Nachdem wir auch in diesem Punkt die Fakten geklärt haben, kann ich dann endlich bald mit meiner provisorischen Mitgliedskarte abdampfen, nicht ohne mir voher ausführliche Erläuterungen zu deren Funktion und Verwendungsweise anzuhören. Gut, denke ich, so ist wenigstens schon ein Teil der Wartezeit um und ich kann mich endlich setzen. So. Nun bin ich also schon mal ADAC-Mitglied. Und das als ÖPNV-Spezialistin, die lange Zeit ziemlich überzeugt war, ein Auto ebenso wenig jemals zu besitzen wie einen Fernseher.
Das Warten beginnt also. Endlich schaffe ich es mal, die Zeitung intensiv zu lesen, ich komme fast ganz durch den Politikteil. Ich bin also gar nicht so genervt wie einige Leute, die sich über die lange Wartezeit beschweren, war ja darauf eingestellt. Nach zwei Stunden tut mir allerdings doch der Hintern weh. Und ich komme dran! Ich lege stolz all meine Papiere auf den Tisch und sage ganz genau, was ich will, denn das weiß ich. Der Mann guckt sich zuerst meinen Ausweis an und fragt: „Und wo wohnen Sie?“ – „In Hamburg“. – „Aber nicht mit Hauptwohnsitz.“ – „Nein, ich habe zwei Wohnsitze.“- „Sie können den Wagen aber nur da anmelden, wo Sie Ihren Hauptwohnsitz haben.“ Mir fällt erst mal die Kinnlade runter, und einen Moment lang will das Kind in mir weinen. Ich hab doch hier wohl nicht zwei Stunden gewartet, um unverrichteter Dinge wieder abzuziehen und die Ummeldung auf den Sankt-Nimmerleinstag zu verschieben?! Es ist schon Nachmittag, ich glaube nicht, dass ich es schaffe, mich jetzt umzumelden, um dann noch am selben Tag mein Auto ummelden zu können. Und ich habe doch nur alle 2 Wochen einen freien Hamburg-Montag! Aber nur kurz dauert der Moment der Resignation, dann erhebt sich der Sysiphos in mir wieder trotzig, überzeugt, dass er das Unmögliche schaffen kann. Entschlossen stehe ich also auf, laufe im Eilschritt raus auf den Parkplatz, über mir der sich von schweren Wolken verdunkelnde Himmel. „Corolla, wir müssen los, es geht ums Ganze!“, rufe ich meinem Ross zu, springe im Grätsch von hinten in den Sattel, und der Corolla bäumt sich feurig und wiehert stolz den aufziehenden Unbillen des Himmels entgegen. Und los geht’s im Galopp, über das kleine Stück Autobahn, den Hügel zu unserem Anwesen hinauf, denn von meinem letzten Meldetag auf dem Harburger Amt (ist ja nicht so, dass ich da nicht auch schon gewesen wäre) weiß ich, dass man den Mietvertrag braucht, den ich natürlich erst holen muss. Daheim angekommen, fliege ich die Stufen zu meinem Zimmer hinauf, schiebe mir unterwegs einige Löffel Joghurt rein, jetzt bloß nicht die Kontrolle an Nebensächliches wie den Genossen Hunger verlieren! Papiere geschnappt, wieder runter und rauf aufs Ross, zum Rathaus! Die Parkplatzsuche ist nicht einfach, aber die Not der Lage verleiht meinem richtigen Riecher Flügel und ich finde recht schnell was, wenn auch ziemlich weit weg vom Amt. Als ich dort ankomme, bleiben noch 45 Minuten, bis sie schließen. Und eine Stunde später schließt der TÜV Hanse. Okay mann, ich nehme die Herausforderung an! Ich eile zum Infoschalter und sage ganz schnell ganz genau, was ich will, denn das weiß ich; da müssen Sie das und das ausfüllen, eine Nummer ziehen und da warten, weiß ich, mach ich, kenn ich doch schon, setze mich – in einen leeren Warteraum. Das gibt’s doch nicht! He, Welt da draußen, warum ersparst du dir nicht alle Wartezeiten, indem du einfach Behördengänge nachmittags machst?

Der Eintrag ist ziemlich lang geraten, Euch und mir zuliebe wird der Rest erst morgen veröffentlicht. Ist das nicht toll, der erste Fortsetzungspost bei Septentryo?

Sonntag, 13. April 2008

Tagebuch einer Faustzieherin

Potztausend, zwei Einträge an einem Wochenende! Ist das eine Frequenz? Es war aber auch zu unglaublich, was Wolfgang und ich gestern Abend auf dem Nachhauseweg mitanhören mussten, eine Art orales absurdes, makrabres Theater. Das schrie geradezu nach Verschriftlichung.
Wie zu erwarten an einem späten Samstagabend in Hamburg, war die S 3 in Richtung Harburg gerammelt voll von der ersten Welle der Heimkehrer, und die wenigsten von ihnen waren dem Anblick nach sympathische Gestalten. Schon auf dem Bahnsteig spürt man die leicht aggressive Fleischlichkeit der Wartenden, in der Bahn dann viel Gedränge, man riecht und fühlt einander ungewollt, wir ergattern einen Platz ganz hinten in der Ecke. Auf dem Präsentiertellerplatz in der Mitte, uns schräg gegenüber, sitzt ein spätpubertäres Gruftiemädchen (aber nicht konsequent im Gruftiestil gekleidet, ein bisschen braver Punk ist auch dabei), das sich sichtlich extrem unwohl in seiner Haut fühlt, sowas aber natürlich nie zugeben dürfte. Sie hat ehrlich gesagt sehr unästhetisch dicke Beine und trägt daran denkbar unvorteilhafte Netzstrümpfe und einen leider viel zu kurzen schwarzen Tüllrock. Hier und da quellen etliche Gramm Fleisch heraus. Die stark geschminkten Augen hinter der ganz braven Schülerbrille verraten das eigentlich nette Mädel. Sie kaut derart brachial auf ihrem Lippenpiercing herum, dass es zeitweise aussieht, als würde sie sich ihre Unterlippe daran zerfetzen. Die Hände liegen angespannt im Schoß, und ständig setzen sich unangenehme Typen um sie herum. Armes Ding. Einer mustert die Frau neben ihm so unverhohlen unzweideutig, dass ich ihm am liebsten eins mit dem Nudelholz überziehen würde. Aber das macht man ja heute nicht mehr.
Erst allmählich tritt dann der eigentliche Gewaltherd des Abends in mein Bewusstsein. Zunächst stehen sie schräg hinter uns: Zwei etwa siebzehnjährige Mädchen, verbunden durch ein Paar Ohrhörer, von denen das eine beständig erklärt, es wolle ein anderes, nicht anwesendes Mädchen ficken. Also nicht aus Begehren, sondern aus Wut. Ich denke noch, Moment mal, das kannst du rein anatomisch nicht, dir fehlt das nötige Gerät dazu, da werden auf der anderen Gangseite neben uns zwei Plätze frei und die beiden setzen sich, sodass wir nun die Logenplätze innehaben. Ich beobachte flüchtig, dass die junge Frau mit dem Sexualdrang einen ziemlich dicken Hintern in einer ziemlich engen Hose trägt (sorry, aber ist nicht meine Schuld, wenn sich alle so unvorteilhaft anziehen) und kein besonders hübsches Gesicht hat. Das ist aber in ihrem Fall zweitrangig, denn ihre Flagge ist ihr Mundwerk. Sie hat ein lautes Organ, redet eigentlich ununterbrochen und drückt sich im Grunde gar nicht so schlecht aus, mit kräftigem Hamburger Akzent. Aber die Inhalte, holla die Waldfee, da legst di nieder.
Erst einmal macht sie ihrer Freundin klar, dass sie eine Location braucht, wo sie in ihren 18. reinfeiern kann. Von den Betreuern im Heim dürfe das natürlich niemand erfahren, sie lasse die eh immer schön über alles im Unklaren. Dann bekommt sie einen Anruf und wird offensichtlich auf eine Gewaltszene mit einem jüngeren Mädchen angesprochen. "Ja, die Ayla, hör mir auf mit der. Die hat mich so gereizt, die hat einfach nich aufgehört, da hab ich ihr ne Faust gezogen und sie is gegen den Fahrstuhl geflogen. - Was? Nee, sie is gegen den Fahrstuhl geflogen, weil ich ihr sone Faust gezogen hatte. Mit links zum Glück, weißdu, sonst wär das n bisschen heftig gewesen. Ja, ich hab mich auch gleich entschuldigt, weißdu, is ja schon Scheiße, ne Dreizehnjährige zu schlagen, aber die hat mich einfach so gereizt! Und dann hat sie natürlich sofort losgeheult, aber sie meinte, nich wegen der Faust, sondern weil wir uns streiten." Ayla sei nämlich nicht so ganz ehrlich gewesen, erzählt sie (ich glaube, sie hieß Jessy, passt auf jeden Fall) dann noch, die sei mit ihrer Bankkarte durch Hamburg gefahren und habe was anderes behauptet. Dann beendet sie das Gespräch recht abrupt und verschiebt seine Weiterführung auf den nächsten Tag.
Sekunden später sprichts zur Freundin: "Bohr, der Soundso ne, den hab ich ja gefressen. Der kann ja gar nix. Weißdu, wir ham gebumst und sone Dinger, und dann sagt er zu mir, er könnte jetz nich so, und ich sollt ihm mal n bisschen Zeit geben. Weißdu, nur weil wir ma gebumst ham! Der tickt doch nich ganz sauber!" Ich hoffe für den jungen Mann, dass sie ihm nicht vor lauter Wut auch noch eine Faust zieht, womöglich mit rechts, wo sie ihn jetzt schon gefickt hat, und notiere gleichzeitig in meinem inneren Wörterbuch: jdm. eine Faust ziehen - jdn. so heftig schlagen, dass er gegen den nächsten Fahrstuhl fliegt.
Nach so viel Gewalt in der Welt da draußen habe ich heute vor Sonnenuntergang bei weit geöffnetem Fenster voll Verzückung dem Abendkonzert der Vögel gelauscht und mich von Herzen am stillen Frieden meiner kleinen Idylle vor den Toren der Stadt erfreut.

Samstag, 12. April 2008

Zweiwohner

Dieser Titel ist mir schon so lange im Kopf, dass ich die Dauer gar nicht mehr in Zahlen benennen kann. Und der lange Zeitraum zwischen Idee und Niederschrift hat auch gleich zu hundert Prozent mit dem Thema zu tun.
Seit ich nach hier oben gezogen bin, bin ich ja nicht mehr nur Einwohnerin Kölns, sondern auch eine Hamburgs und damit - frei nach Adam Riese - Zweiwohnerin. Das Schicksal der Zweiwohnerschaft trifft viele Vertreter meiner Generation, ich bin da weiß Gott nicht die einzige. Wir alle sind ein bisschen auf Karriere aus und haben in der Regel eine besondere menschliche Bindung, meist an eine bestimmte Person (oder, im fortgeschrittenen Stadium, an zwei oder mehrere), die uns ins Zweiwohnerdasein führt. Wir wollen lieben und Karriere machen, uns selbst und andere erfüllen. Wobei das die Industrieversion der Zweiwohnerschaft ist; die ganz Armen sichern auf diese Weise nur das nackte Überleben, da ist nichts mit Familienromantik. Diese Gruppe muss ich aber hier leider außer Acht lassen; ihre Betrachtung würde auch zu weit ins Politische führen.
Zweiwohner sein bereichert - zumindest mich - um Eindrücke, Erfahrungen, Begegnungen. Ich schätze das sehr und glaube auch, dass es Charaktere gibt, die derart kosmopolitisch und unstet sind, dass sie das permanente Nomadenleben nicht nur ertragen, sondern auch lieben, ja kaum anders können. Sie leben wie ein nie eingepflanzter Ableger oder wie ein Schnittblumenstrauß, immer genährt vom Wasser für ein paar Tage. Lange Zeit war ich überzeugt, selbst ein richtiger Vagabund zu sein, mit Leib und Seele mobil. Über Länder und Meere hinweg. Aber, Senores (leider baut der Mac mir kein enie ein), ist es nicht so: Die große Mehrheit von uns schlägt irgendwann Wurzeln, will eine Heimat. Wenn dies schöne Wort für uns nicht das ist, was uns in der Kindheit umgeben hat, suchen wir es uns eben woanders. Oder manchmal wechseln wir unsere Heimat, im Herzen meine ich, aber fast sicher ist doch, dass wir eine wollen, eine suchen, das vielleicht auch nicht immer zugeben.
Denn das Zwei- oder Mehrwohnersein zehrt, andererseits, an vielem: An der inneren Ruhe, der inneren Uhr, an der Intensität von Freundschaften oder allgemein von zwischenmenschlichen Beziehungen, an unserem Konto, der Schönheit unserer Wohnungen (man kann sich ja nicht überall um alles kümmern), an der Regelmäßigkeit der Blogeinträge (auch wenn es das oder den Blog ja eigentlich nährt). Aber vor allem zehrt sie an unserer Freizeit, und zwar im Wortsinn der freien Zeit für uns selbst. Wo bleiben wir zwischen Arbeit, Fahren, Essen, (spät) Schlafen, dem Liebsten und dem Zahn der Zeit? Wo bleibt das Nichtstun, wann lesen wir ein Buch oder legen es dann doch nach drei Sätzen wieder hin, um einfach nur nachzudenken?
Auch das auf Dauer wichtige Gefühl von Gewissheit bleibt bei dieser Lebensform oft auf der Strecke. Sicher, ein Herz in Aufruhr ist aufregender als ein Herz im Ruhezustand, aber ob die ständigen Abschiede gut für so ein Herz sind? Immer wieder sich trennen und neu zurückfinden, kann da Routine reinkommen? Kann man gleichermaßen an zwei oder mehr Orten zu Hause sein? Ich bezweifle das inzwischen. Was will ich auf Dauer, mein geliebtes und gelebtes Rheinland oder den frischen, verheißungsvollen Wind des Nordens? Halve Hahn oder Labskaus? Karneval oder Nordsee (mir fiel kein anderer Vergleich ein, die haben ja hier oben keine Bräuche)? Dom oder Michel?
Und immer hängen Menschen dran an den Entscheidungen und Verwurzelungen. Eigentlich bilden doch sie ein Gutteil der inneren Heimat. Vielleicht hinkt auch der Pflanzenvergleich. Denn vor allem sind wir ja wohl das: Rudeltiere im Revier. Und das Revier steckt sich mal dort, mal hier.

Donnerstag, 3. April 2008

Yasmina und die Voyeure

Am Dienstag war ich wieder im St. Pauli-Theater, wo ich drei Wochen zuvor schon "Der Gott des Gemetzels" von Yasmina Reza mit der wunderbaren Anne Weber (von der ich vorher noch nie gehört hatte) als Annette gesehen hatte. Superstück; die Schlussszene, in der Anne Weber die Tulpen der Gastgeber zermetzelt, ist grandios.
Diesen Dienstag - und nur dann - las Yasmina Reza aus ihrem Buch über Sarkozys Wahlkampf, oder besser aus dem Buch, das sie während Sarkozys Wahlkampf als seine Begleiterin geschrieben hat. Haptsächlich las eigentlich Anne Weber aus der deutschen Fassung, aber Reza war da und hat auch am Schluss ein bisschen gelesen, und ein netter und kluger deutscher Literaturprof von der Sorbonne hat moderiert und viele angenehme Scherze gemacht. Ich hatte einen schönen Platz in der fünften Reihe und neben mir sogar einen Sitz frei zum Jackeablegen. Somit 1,50 für die Garderobe gespart. Nettes Theater, mein Schatz.
Yasmina also war wunderbar, ich fand sie richtig klasse. So ehrlich, ganz ohne Schnörkel und vollkommen sie selbst. Und es war gut, dass ich sie dort gesehen und vor allem gehört habe, denn vorher hatte ich ein Interview mit ihr im Spiegel gelesen, in dem sie sich partout weigerte, irgend etwas Wertendes über Sarkozy und seine Allüren seit dem Amtsantritt zu sagen. Der Reporter hatte auch etwas unschön gefragt, ob sie angesichts des öffentlich gekochten Kessel Buntes aus Sarkozys Privatleben "überrascht" gewesen sei. Woraufhin sie erklärte hatte, durchaus nicht zu einer Spezialistin der Person des Präsidenten geworden zu sein und sich zu derlei Dingen nicht äußern zu können. Ich dachte dabei, gut, schon blöd, dass es doch immer wieder in die Regenbogenrichtung geht (aber so was will ja der Leser auch immer ein bisschen, schließlich steckt in jedem von uns ein kleiner Voyeur), so ausgelutscht das Thema Bruni und Folgen auch inzwischen sein mag, aber dass sie sich so völlig jeder Aussage verweigert, fand ich doch krass.
Nachdem ich dann aber einige Passagen aus dem Buch gehört und Reza auf der Bühne erlebt hatte, wurde mir klar, dass sie gar nicht richtiger hätte antworten können. Sie äußert sich als Schriftstellerin über eine ihrer literarischen Figuren, und nichts sonst. Darin ist sie sehr klug und damit bleibt sie immer auf ihrem Niveau und bei ihren Leisten. Und dann kam doch bei der kurzen Diskussionsrunde am Schluss tatsächlich die Frage aus dem Publikum: "Hat sie das überrascht nach der Wahl mit seiner Scheidung, den Frauen und so?" Und ich denke, ich höre nicht richtig. Schon wieder dieses "überrascht". Hat die den Spiegel gelesen oder ist "Waren Sie überrascht?" die neue (oder aber auch gar nicht neue) Camouflagefrage für "Wissen Sie da noch was drüber, so ein paar Details, bitte!?" Was sollte sie daran überraschen? Und was ist so interessant daran, ob sie überrascht war oder nicht? Wollen Sie wirklich wissen, ob sie überrascht war? Hat es SIE nicht eher überrascht, dass der Präsident der Republik Frankreich so mir nichts, dir nichts halbseidene Waffengeschäfte mit despotischen Staatschefs machen kann, Madame?
Aus dem Publikum kam dann auch ein empörtes Raunen, und Yasminas Antwort war die gleiche wie im Interview, fast schien's mir wie ein déjà-vu. Und ich dachte, sehr gut, Hamburger Publikum, sehr gut, Yasmina, gebt Voyeuren keine Chance. Denn der Voyeur in uns ist der beste Freund des Schweinehunds.

Die leidigen Kommentare

Es sei hier nun doch noch einmal kurz und bündig angeschnitten, dafür abschließend: Es geht nicht mit den anonymen Kommentaren. Auch wenn das eine Sauerei und Fehlinformation seitens des Webmagnaten Google ist, aber man muss sich anmelden, d.h. ein Google-Konto einrichten (so wie der ehrenwerte Herr Tober aus Omacapetown es netterweise getan hat, um zur Ponydiskussion beizutragen), um kommentieren zu können. Sorry, nicht emine Entscheidung. Geht aber alles fix wie nix und scheint keinerlei schlimme Konsequenzen zu haben, ich hab's auch gemacht und bin bisher nicht verfolgt worden von einem virtuellen Stalker oder dergleichen. Und falls mich jetzt hundert Callcenter anrufen, merke ich's nicht, bin ja den ganzen Tag nicht da. Also, wenn Ihr es wirklich wollt, kann ich Euch nur raten: Macht was Ihr wollt.

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