Wir sind alle nur Menschen. Deshalb steht hier auch nicht der unterhaltsame, interessante und geniale Eintrag, den ich mir für heute vorgenommen hatte, sondern dieses Stück über persönliche und globale Frustrationen, dessen Notwendigkeit sich leider heute im Laufe des Tages immer mehr herauskristallisiert hat. Die eigentlich vorgesehene Geschichte kommt noch, keine Sorge. Aber erst mal sind die Emotionen wichtiger, und die kochten heute hoch.
Heute morgen in der Bahn las ich Günter Wallraffs neue Reportage über die Lidl-Brotbackfabrik. Wahnsinn, wie Wallraff es immer noch schafft, sich in solche Betriebe einzuschleusen, er sieht ja nun wirklich nicht mehr aus wie 50. Und was er immer noch bereit ist, auf sich zu nehmen. Nachhaltig prägt sich mir das Bild des Fabrikarbeiters ein, der schreiend in der Halle steht, weil er sich verbrannt hat, und keiner hilft ihm, aus Angst oder aus Gleichgültigkeit.
An meinem Arbeitsplatz geht es weiter mit den menschlichen Scheußlichkeiten: Ich habe den Allerwertesten voll Arbeit, weil Amstetten in Österreich liegt und Österreich in mein Gebiet fällt und der Inzest-Fall bei uns thematisiert wird. Nun soll es also dem Österreicher an sich angelastet werden, weil er ja doch irgendwie a Komischer is. So'n Quatsch, als ob das nicht sonstwo hätte passieren können, aber es herrscht halt Erklärungsnot. Die Anfragen werden immer mehr und immer absurder. Ich bin froh, als endlich Essenszeit ist.
Beim Kaffee aber passiert mein persönlicher Eklat: Während meine Kollegen noch in der Kassenschlange stehen, will ich schon mal rausgehen mit meinem Glas Apfelschorle in der Hand und einen Tisch auf der Terrasse suchen. Und in der vollen Überzeugung, vor mir liege die freie Luft, laufe ich raus - und voll gegen die Glasscheibe. Es gibt einen ordentlichen Rumms, Apfelschorle ergießt sich über meine Brust und die Scheibe, meine Stirn hinterlässt dort einen großen Abdruck (ich hoffe, die wischen das bis morgen weg), ich taumele benommen zurück, alles starrt mich an, ein Raunen geht durch die volle Bar. Augenblicklich durchfährt mich neben dem Schmerz heftige Scham. Die Tür, durch die ich überzeugt war zu treten, ist gute 2 Meter weiter rechts. Tränen schießen mir in die Augen, gutgemeinte Fragen nach meinem Wohlergehen weise ich ab, will nur raus hier, zur Terrasse. Auf dem Weg dorthin laufe ich ins nächste Fiasko: Ein Kamerateam einer norddeutschen Rundfunkanstalt will wissen, wie ich zur Geschäftsführung stehe, eine Frau streckt mir ein Mikrofon entgegen. Ich murmele unter Tränen und im Davonlaufen, dass ich dazu nichts sagen könne. Die Reporterin erblickt dann auch meine apfelschorlengetränkte Brust und sagt etwas wie "Ach nee, Sie ham sich da ja auch total..." Ich kann also jedem, der sich vor unangenehmen Fragen drücken will, nur empfehlen, sich einfach vorher mit Apfelschorle zu übergießen, möglichst an prominenter Stelle, und möglichst auch noch etwas weinerlich zu gucken.
Als meine Kollegen zu mir stoßen, muss ich kurz richtig losheulen, und in die Apfelschorle auf meinem Busen mischt sich Rotze. Letztere lässt sich hinterher leichter entfernen als die Schorle. Merke: Besser ordentlich heulen als mit Apfelschorle bekleckern. Das geht natürlich nicht recht mit der vorher gemachten Empfehlung zusammen, aber die Situationen sind ja auch verschieden.
Irgendwie, mit viel Kaffee, Durchhaltevermögen und Fluchen, stehe ich den Rest des Arbeitstages durch. Nicht gerade stimmungshebend wirkt die Tatsache, dass ich morgen trotz des Feiertags arbeiten muss, nachdem ich heute und gestern schon einige Überstunden gemacht habe. Doch ein Gedanke an Wallraffs Brotbackarbeiter lässt mein innerliches Murren fast verstummen. Und ich kann ja dem Frust entgegenwirken mit einem Mittel, das denen von ganz unten selten zur Verfügung steht: Konsum. Und das tue ich auf dem Heimweg, auch wenn es fünfzehn Minuten vor Geschäftsschluss ist, mir egal. Ich tue, was jede gefrustete Frau tut, um sich das gute Quäntchen ausgleichenden Glücks materieller Art zu verschaffen: Schuhe kaufen. Gestern gab's nämlich Geld. Und ihr könnt ruhig schon die Tür abschließen, ihr Verkäuferinnen, ich möchte auch um zehn vor sieben noch ordentlich bedient und beraten werden, dafür kauf ich ja auch eure blöden Schuhe und drei Paar Socken gleich dazu. Danach geht es mir schon besser. Vor der Heimkehr kaufe ich dann noch schnell einen Dreierpack Piccolo-Prosecco, angeblich del Veneto, glaub ich aber nicht, weil draufsteht "abgefüllt in Trier", bestimmt auch so eine Halsabschneider-Zulieferfirma. Egal, ich will einen trinken. Und ich trinke gleich zwei, zu Hause. Und esse und rauche. Dazu setze ich mich auf die Treppe zum Garten und höre den Vögeln zu, der Rhododendron blüht und die Sonne verabschiedet sich langsam. Puh. Friede, du bist wieder mit mir. Dann ziehe ich meine neuen Schuhe an - sie erfüllen den wunderbaren Kompromiss aus Schönheit und Komfort - und tanze darin, erst zu rockiger Rockmusik, dann zu souliger Soulmusik, und ich sah meinen Schuhen beim Tanzen zu und sah, dass es gut war. Und jetzt höre ich ganz ruhige Musik, habe meine schönen neuen Schuhe an, bin a bisserl beschwipst und denke: Dank dir, Konsum. Du hast mich gerettet. Und mich packt ein leises schlechtes Gewissen gegenüber den Brotfabrikarbeitern und den Kindern im Keller. Kommt, wir spenden ihnen allen Sekt und Schuhe.
Mittwoch, 30. April 2008
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