Potztausend, zwei Einträge an einem Wochenende! Ist das eine Frequenz? Es war aber auch zu unglaublich, was Wolfgang und ich gestern Abend auf dem Nachhauseweg mitanhören mussten, eine Art orales absurdes, makrabres Theater. Das schrie geradezu nach Verschriftlichung.
Wie zu erwarten an einem späten Samstagabend in Hamburg, war die S 3 in Richtung Harburg gerammelt voll von der ersten Welle der Heimkehrer, und die wenigsten von ihnen waren dem Anblick nach sympathische Gestalten. Schon auf dem Bahnsteig spürt man die leicht aggressive Fleischlichkeit der Wartenden, in der Bahn dann viel Gedränge, man riecht und fühlt einander ungewollt, wir ergattern einen Platz ganz hinten in der Ecke. Auf dem Präsentiertellerplatz in der Mitte, uns schräg gegenüber, sitzt ein spätpubertäres Gruftiemädchen (aber nicht konsequent im Gruftiestil gekleidet, ein bisschen braver Punk ist auch dabei), das sich sichtlich extrem unwohl in seiner Haut fühlt, sowas aber natürlich nie zugeben dürfte. Sie hat ehrlich gesagt sehr unästhetisch dicke Beine und trägt daran denkbar unvorteilhafte Netzstrümpfe und einen leider viel zu kurzen schwarzen Tüllrock. Hier und da quellen etliche Gramm Fleisch heraus. Die stark geschminkten Augen hinter der ganz braven Schülerbrille verraten das eigentlich nette Mädel. Sie kaut derart brachial auf ihrem Lippenpiercing herum, dass es zeitweise aussieht, als würde sie sich ihre Unterlippe daran zerfetzen. Die Hände liegen angespannt im Schoß, und ständig setzen sich unangenehme Typen um sie herum. Armes Ding. Einer mustert die Frau neben ihm so unverhohlen unzweideutig, dass ich ihm am liebsten eins mit dem Nudelholz überziehen würde. Aber das macht man ja heute nicht mehr.
Erst allmählich tritt dann der eigentliche Gewaltherd des Abends in mein Bewusstsein. Zunächst stehen sie schräg hinter uns: Zwei etwa siebzehnjährige Mädchen, verbunden durch ein Paar Ohrhörer, von denen das eine beständig erklärt, es wolle ein anderes, nicht anwesendes Mädchen ficken. Also nicht aus Begehren, sondern aus Wut. Ich denke noch, Moment mal, das kannst du rein anatomisch nicht, dir fehlt das nötige Gerät dazu, da werden auf der anderen Gangseite neben uns zwei Plätze frei und die beiden setzen sich, sodass wir nun die Logenplätze innehaben. Ich beobachte flüchtig, dass die junge Frau mit dem Sexualdrang einen ziemlich dicken Hintern in einer ziemlich engen Hose trägt (sorry, aber ist nicht meine Schuld, wenn sich alle so unvorteilhaft anziehen) und kein besonders hübsches Gesicht hat. Das ist aber in ihrem Fall zweitrangig, denn ihre Flagge ist ihr Mundwerk. Sie hat ein lautes Organ, redet eigentlich ununterbrochen und drückt sich im Grunde gar nicht so schlecht aus, mit kräftigem Hamburger Akzent. Aber die Inhalte, holla die Waldfee, da legst di nieder.
Erst einmal macht sie ihrer Freundin klar, dass sie eine Location braucht, wo sie in ihren 18. reinfeiern kann. Von den Betreuern im Heim dürfe das natürlich niemand erfahren, sie lasse die eh immer schön über alles im Unklaren. Dann bekommt sie einen Anruf und wird offensichtlich auf eine Gewaltszene mit einem jüngeren Mädchen angesprochen. "Ja, die Ayla, hör mir auf mit der. Die hat mich so gereizt, die hat einfach nich aufgehört, da hab ich ihr ne Faust gezogen und sie is gegen den Fahrstuhl geflogen. - Was? Nee, sie is gegen den Fahrstuhl geflogen, weil ich ihr sone Faust gezogen hatte. Mit links zum Glück, weißdu, sonst wär das n bisschen heftig gewesen. Ja, ich hab mich auch gleich entschuldigt, weißdu, is ja schon Scheiße, ne Dreizehnjährige zu schlagen, aber die hat mich einfach so gereizt! Und dann hat sie natürlich sofort losgeheult, aber sie meinte, nich wegen der Faust, sondern weil wir uns streiten." Ayla sei nämlich nicht so ganz ehrlich gewesen, erzählt sie (ich glaube, sie hieß Jessy, passt auf jeden Fall) dann noch, die sei mit ihrer Bankkarte durch Hamburg gefahren und habe was anderes behauptet. Dann beendet sie das Gespräch recht abrupt und verschiebt seine Weiterführung auf den nächsten Tag.
Sekunden später sprichts zur Freundin: "Bohr, der Soundso ne, den hab ich ja gefressen. Der kann ja gar nix. Weißdu, wir ham gebumst und sone Dinger, und dann sagt er zu mir, er könnte jetz nich so, und ich sollt ihm mal n bisschen Zeit geben. Weißdu, nur weil wir ma gebumst ham! Der tickt doch nich ganz sauber!" Ich hoffe für den jungen Mann, dass sie ihm nicht vor lauter Wut auch noch eine Faust zieht, womöglich mit rechts, wo sie ihn jetzt schon gefickt hat, und notiere gleichzeitig in meinem inneren Wörterbuch: jdm. eine Faust ziehen - jdn. so heftig schlagen, dass er gegen den nächsten Fahrstuhl fliegt.
Nach so viel Gewalt in der Welt da draußen habe ich heute vor Sonnenuntergang bei weit geöffnetem Fenster voll Verzückung dem Abendkonzert der Vögel gelauscht und mich von Herzen am stillen Frieden meiner kleinen Idylle vor den Toren der Stadt erfreut.
Sonntag, 13. April 2008
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1 Kommentar:
Die Geschichte ist leider wahr.
thestarcash
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