Dienstag, 28. Oktober 2008

Ist die noch frisch? oder Momente vollkommener Peinlichkeit

Fremdschämen ist so ein schönes neues Modewort, das ich zuerst nur aus dem Spanischen kannte - vergüenza ajena. Da sich das Phänomen inzwischen auf Deutschland auszubreiten scheint und ich es heute selbst wieder erlebt habe, will ich nun auch endlich einmal darüber schreiben.
Peinliche Momente sind ja dann am schlimmsten, wenn sich zwei Leute gleichzeitig schämen, sich dabei aber nicht gut oder gar nicht kennen (sonst wird es manchmal auch lustig). In solchen Situationen entsteht die Peinlichkeit auch dadurch, dass man einander zu fremd ist, um darüber unbefangen zu sprechen, etwa: "Mama, tut mir leid, aber diese Jacke macht dich ungefähr fünfzehn Jahre älter." Oder: "Oh tschuldigung, wusste ja nicht, dass du auf dem Klo sitzt, schließ doch ruhig ab - stinkt übrigens ziemlich."
Da ich vor kurzem erst umgezogen bin, kenne ich die Bäckereiverkäuferinnen in meinem neuen Veedel noch nicht besonders gut. Und die beiden, die ich heute kennenlernte, waren mir dann auch nicht sympathisch genug, um mit ein paar legeren Worten die entstandene Peinlichkeit zu übergehen. Dazu kam es so: Ich mag gern Brot mit vielen Körnern sowie Süßgebäck mit nicht allzu viel Mohn. In der Bäckerei hatte ich mir schon ein Brot mit schön vielen Körnern ausgesucht und liebäugelte mit einer Scheibe Mohnstollen, die sich dort in der Auslage räkelte und 95 Cent kosten sollte. Mohnstollen finde ich nun lecker, aber für 95 Cent, immerhin eine Mark neunzig für eine einzelne Scheibe, möchte ich nichts kaufen, das schon mehrere Stunden werdender Pappigkeit durch zu langes aufgeschnittenes Liegen hinter sich hat. Deshalb fragte ich die Verkäuferin, wobei ich mir glatt etwas spießig vorkam: "Ist die Scheibe da noch einigermaßen frisch?" Fast wären die Finger der Frau schneller gewesen als ihre Worte. Letztere waren etwa: "Ja klar, die is, ja doch, die ham wer erst...", während erstere blitzschnell Richtung Stollenscheibe gezuckt waren, um diese prüfend zu befühlen, sich aber in letzer Bruchsekunde besonnen und kurz vorher gestoppt hatten. Da schwebten sie nun, ihre Finger über meiner Stollenscheibe, und stürzten uns beide in die Peinlichkeit: Sie hatte ganz einfach das tun wollen, was man üblicherweise tut, um die Frische von Teigwaren zu überprüfen: Man befühlt und drückt sie ein bisschen. Ich hätte genau das Gleiche getan, wenn es bereits meine Scheibe Stollen gewesen wäre. So aber konnte ich nicht selbst fühlen, weil ich noch nicht zum Kauf entschlossen war, hätte aber auch ihre Fingerabdrücke nicht auf meiner potenziellen zukünftigen Stollenscheibe haben wollen. Und sie hatte das ganz genau erkannt, aber ihre Hand nicht mehr zurückhalten können. Nun schämte sie sich, ich schämte mich für sie fremd, weil ich ein solches Verhalten für eine Bäckereifachverkäuferin recht unprofessionell fand (und ein bisschen schämte ich mich auch wegen meiner spießigen Frage, die uns beiden ja erst den Schlamassel beschert hatte), und sie wusste nicht wohin mit ihren ausgestreckten Fingern. Um die Situation gerade zu biegen, ließ sie dann ihre Hand wenige Millimeter über dem Gebäckstück kreisen, so wie man prüft, ob eine Herdplatte noch heiß ist. Das trug auch nicht unbedingt zur Rettung ihrer Ehre bei und klärte nicht meine Frage, aber die Rettung nahte in Gestalt ihrer Kollegin, die breitschnäuzig dazwischenfuhr: "Oh ja der Mohnstollen, hab ich gerade erst aufgeschnitten und selber gegessen, is nämlich der einzige Stollen, den ich esse."
Puh. Geschafft. Wie wohltuend ist doch das Eingreifen einer unbeteiligten Person in einer Situation der Peinlichkeit! Nun konnte ich mich voll und ganz auf das Urteil der zweiten Verkäuferin verlassen und leichten Herzens meine Stollenscheibe kaufen, und die erste Verkäuferin konnte ihre Hand wegnehmen und musste mir nicht mehr beweisen, dass die Stollenscheibe noch frisch war. Ich habe dann die ganze schöne Scheibe als Abendbrotnachtisch gegessen, und sie schmeckte wirklich kein bisschen pappig. Ich war aber auch froh, dass keine fremden Finger sie befühlt hatten.

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Endlich Palladio und Schluss mit Venedig

Ja, solche Fortsetzungsgeschichten sind hart, man verbringt mehr Zeit mit Warten als mit Lesen und weiß nicht recht, was man in all der Wartezeit machen soll. Aber nun kommt, wie der Titel verspricht, endlich der letzte Teil des kleinen venezianischen Tagebuchs, und wir können alle wieder ruhig schlafen. Ehrlich gesagt habe ich mich die ganze Zeit am meisten auf den Inhalt dieses letzten Teils gefreut; vielleicht geht es euch ähnlich und die Freude nimmt nun Überhand im Bloggerland.
Mein zweiter Venedig-Tag war reserviert für einen ausgiebigen Vicenza-Besuch, weil mein Herr Tiepolo mit seinem Vater dort eine Villa ausgemalt hat. Das wusste auch schon Herr Goethe, der kannte wohl den Villenbesitzer, Herrn Valmarana, und hat ihn besucht auf seinem Anwesen. Herr Goethe dachte aber, dass die ganze Villa von Papa Tiepolo ausgemalt worden sei, was gar nicht stimmt, das Gasthaus hat mein Herr Tiepolo Junior ausgemalt, und deshalb bin ich hin. Goethe und mir hat die Villa dennoch gleichermaßen gefallen.
Dass ich in Vicenza genauso viel laufen musste wie in Venedig, lag vor allem daran, dass die Busfahrer dort streikten. Das passiert ja recht oft in Italien, und zum Glück ist Vicenza nicht so groß, aber die Villa Valmara liegt doch ein bisschen außerhalb auf einem Hügel, also wieder einiges zu tun für meine geplagten Füße. Die hatten wohl auch langsam Angst, sie befänden sich auf dem Jakobsweg, und taten mir dies durch mahnendes Schmerzen kund. Trotzdem zwang ich sie, mich erst auf einem Rundweg zu einigen Palladio-Bauten zu tragen (der wohl berühmteste Sohn Vicenzas feiert dieses Jahr seinen 500. Geburtstag) und dann stracks den Hügel hoch zur Valmarana-Villa.
Dieses schöne Herrenhaus heißt Villa Valmarana ai Nani, „mit den Zwergen“, weil die umgebende Mauer mit in Stein gemeißelten Zwergen in Lebensgröße verziert ist. Dazu gibt es eine schöne Geschichte, die ich nicht mehr ganz genau weiß, aber ungefähr geht sie so: Der Gutsherr, der die Villa bauen ließ, bevor Herr Valmarana sie kaufte und Herrn Goethe dorthin einlud, hatte eine kleinwüchsige Tochter. Diese kleine Principessa Giftspritze war immer sauer auf ihre Diener, weil die ihr alle zu groß waren und sie sich von ihnen nicht ernst genommen fühlte. Ein Angestellter nach dem anderen wurde von der kleinwüchsigen Principessa vor die Tür gesetzt. Bis ihr Vater eines Tages eine Idee hatte: Er ließ im ganzen Land verkünden, dass er Kleinwüchsige als Hausangestellte suchte, und stellte seiner Tochter eine komplette Zwergendienerschar zusammen. Da freute sich die Prinzessin sehr, und sie gewann ihre Zwergendiener so lieb, dass jeder von ihnen vom Hofbildhauer in Stein verewigt werden musste. Und so erinnern ihre Skulpturen noch heute daran, wie viel Ehre dem kleinen Volk hier einst zuteil wurde.
Meine Ehrerbietung galt nun aber vor allem dem jüngeren Herrn Tiepolo, und deshalb schaute ich mir seine Fresken sehr lange an und machte mir möglichst viele kluge Gedanken dazu. Und ich plauderte kurz mit der Signora Valmarana, einer sehr netten modernen Adligen. Irgendwann war es aber Zeit zu gehen, ich musste ja noch nach Venedig zurück, und so nahm ich einen kleinen Schotterweg hügelabwärts, den ich vorher nicht gegangen war. Und als dieser kleine Schotterweg auf halber Höhe des Hügels plötzlich auf die Straße mündete, stand sie auf einmal vor mir: Palladios wunderbare Villa Rotonda. Potzblitz, dachte ich (so wie es wahrscheinlich schon Goethe gedacht hatte), dass sie hier irgendwo steht, wusste ich ja, aber dass sie nun so wie aus dem Nichts auftaucht, ist schon ein kleines Wunder. Ich näherte mich zögernd, wusste ich doch Zeit und auch Geldbeutel gegen eine weitere Besichtigung. Ich hatte nämlich fast all mein Geld für Bücher über die Bilder des Herrn Tiepolo ausgegeben und besaß gerade noch genug für die Rückfahrt nach Venedig.
Direkt hinter dem Eingangstor der Villa ist ein Pförtnerhäuschen, in dem ein Pförtner sitzt und interessierte Laufkundschaft darüber informiert, dass die Außenbesichtigung fünf, die Innenbesichtigung zehn Euro kostet. Ganz schön stolze Preise, aber im Veneto ist eben alles teuer. Er merkte wohl, dass ich Interesse hatte, und wollte mir gern ein Ticket für die Außenbesichtigung verkaufen. Ich sagte ihm aber, dass ich schon zu viel ausgegeben hätte und nun ein bisschen sparen müsse. Das fand er sehr komisch, er brach in schallendes Gelächter aus. „Ähm, ja, ich geh dann mal“, murmelte ich und verließ ihn, der immer noch kicherte.
Etwas geknickt trottete ich die Straße hinunter, unschlüssig, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, und ein wenig erbost über die Wucherpreise in diesem Kulturland der unkultivierten Politiker. Unvermittelt blieb ich jedoch stehen. Ich dachte: Du kannst doch nicht zwanzig Schritte von Palladios Rotonda stehen und sie Dir nicht anschauen. Wer weiß, wann Du wieder hierhin kommst? Das half. Ich ging die zwanzig Schritte zurück und war schnell wieder bei dem humorvollen Pförtner. Der grinste schon; ich hielt ihm meine letzten fünf Euro hin und sagte: „Hier, habs mir anders überlegt. Ich mach die Außenbesichtigung.“ Flink zog er mir den Schein aus der Hand, wedelte damit vor meiner Nase herum und sagte schelmisch: „Tja, gibt wohl kein Abendessen heute, was?“- „Richtig, ich mach Diät heute. Für Palladio“, gab ich zurück.
Dann genoss ich den schönen Rotonda-Rundgang und die Ausssicht auf den herbstlichen Veneto im Abendlicht. Und dachte: Wäre Palladio ein Politiker und lebte er noch, dann könnte er sich ganz schön auf seinen Diäten ausruhen. Die werden nämlich sicher oft für ihn erhöht.
Meine Diät an jenem Abend bestand aus einem wirklich mickrigen Stück Pizza. Zurück in Deutschland freute ich mich vor allem über das gute Essen, das ich mir dort wieder leisten konnte, und über das Tragen anderer Schuhe sowie Fahrradfahren statt Laufen.

Dienstag, 7. Oktober 2008

Venedig II

... ist besser als Hartz IV. Wenn es auch hier noch um Politik und Geld gehen wird. Aber nein, eigentlich kommen wir dazu erst in Venedig III. Zuerst ist doch der Mensch wichtig.
Am Abend meines ersten Venedig-Tages merkte ich, dass man zum Viellaufen dicke Sohlen braucht. Ich hatte einfach das Gefühl, den ganzen Tag über ein Geröllfeld gelaufen zu sein, und zwar barfuß. Gleichzeitig wollte ich aber, wie es meinem Naturell entspricht, nach getaner Arbeit nicht gleich ins Bett gehen. Und siehe da, die Rettung saß am Küchentisch meiner Herberge! Es waren die beiden weiblichen Wesen, mit denen ich unbekannterweise eine Nacht verbracht hatte, eine Mexikanerin und eine Argentinierin. Beide sehr unterhaltsam und beide viel älter, als sie aussahen (ja, man ist da doch manchmal erstaunt!). Und da sie gerade schon mal einen Wein auf hatten, nahm ich auch ein Glas und los wurde geplappert bei Wein und Weib, nur ohne Gesang. Die Mexikanerin gefiel mir besonders, ihr Name war Leticia. Und es hatte sich Venedig auch schon jemand in sie verliebt, nämlich... Giorgio! Ich konnte erst nicht glauben, dass sie überhaupt irgendeine Form der Kommunikation mit ihm gehabt hatte, in welcher Sprache?!
Es zeigte sich bald, dass es doch auch ohne viel Sprache geht. Giorgio kam nämlich alsbald und schenkte allen erst mal Wein nach. Und er schien sehr wohlgelaunt, allein das hatte ich ihm kaum zugetraut. Er wollte die beiden in einen anderen Ableger des Hostels bringen, und ich schlug vor, doch vorher noch gemeinsam etwas trinken zu gehen, wenn auch die Füße schmerzten, wann ist man schon mal abends in Venedig und hat Geld für ein paar Spritz in der Tasche, Lagunengetränk Nummer eins. So geschah's. Als lustiges Ausländerquartett setzten wir uns vor eine kleine Bar an einem ruhigen Kanälchen und zeigten dem einheimischen Publikum, wie interkulturelle Kommunikation ohne viel verbales Verständnis geht. Giorgio bemühte sich vor allem, Leticias Namen zu behalten und dann auch noch flüssig auszusprechen, was ihn die meiste Zeit beschäftigte. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihn zappeln zu lassen und in schnellem mexikanischem Slang fortwährend zu foppen, wovon er natürlich kein Wort verstand. Und Karina, die Argentinierin, erzählte mir zu meinem Namen, sie habe in ihrem Wohnheim in Rom eine Chinesin, die auch Nina heiße. Sie war erstaunt, dass das offensichtlich ein Name sei, der in China und Deutschland gleichermaßen beliebt ist. Ich deutete an, dass ihre Nina wohl genauso wenig wirklich Nina hieß wie unser Giorgio Giorgio. "Was?! Er heißt nicht Giorgio? Warum behauptet er das denn, wenn es gar nicht stimmt?", entrüstete sie sich. Tja, Recht hat sie doch. Sollen denn Namen ausgewechselt werden können wie Unterhosen, nur damit sie irgendwelchen offensichtlich sprachgestörten Europäern etwas mehr Gedächtniskomfort bieten? Oder sollten wir, die globalisierte Generation, vielleicht gleich bei der Geburt ein Wörterbuch mit der Übersetzung unseres Namens in etwa 154 Sprachen bekommen?
Merke: Asiaten tragen gern Namen wie Tarnanzüge oder Chamäleons.

Freitag, 3. Oktober 2008

Von falschen Namen und Diäten für Palladio – kleines venezianisches Tagebuch in mehreren Teilen

Auf den Spuren von Giandomenico Tiepolo (über den ich ein schlaues Buch schreiben möchte und hoffentlich werde) bin ich drei Tage durch Venedig und seine Umgebung gelaufen. Das war ziemlich anstrengend, und einiges habe ich dabei erfahren. Davon will ich nun erzählen. Weil ich immer noch erschöpft bin von der Reise und außerdem beim Schreiben auch noch umziehen muss, werde ich mehrere Pausen einlegen; es wird also wieder ein schöner Fortsetzungseintrag.

Ich kannte Venedig schon von einer früheren Reise vor vier Jahren, aber sich in dieser seltsamen Stadt wirklich auszukennen ist eine Kunst für sich, und deshalb hatte ich das Angebot gern angenommen, mich von einem der Mitarbeiter meiner Pension am Bahnhof abholen zu lassen. Das Zimmer hatte ich per Telefon bei einer netten Frau vorbestellt; es würde zwar nicht für mich allein sein, dafür aber günstig und mit Frühstück. Wunderbar. Ich nannte der Frau meine Ankunftszeit und sie sagte, ihr Bruder würde mich am Bahnhof abholen. Ich gab ihr als Erkennungszeichen meine orange Jacke durch. „Und wie sieht dein Bruder aus?“, wollte ich wissen, schließlich gibt es dort eine Menge Menschen, die warten und eine weitere Menge, die die Wartenden abholt. Die Herbergsmutter wirkte etwas verwundert ob meiner Frage, sagte dann aber: „Naja, er heißt Giorgio und ist dunkelhaarig.“ Aha, dachte ich, da ist er wirklich die große Ausnahme unter allen Italienern. Wie verabredet am Fuß der großen Brücke über den Canal Grande angekommen, positionierte ich mich dort also möglichst auffällig mit meiner gottlob knallorangen Jacke und hoffte, Giorgio würde mir ein ähnliches Zeichen senden.
Dort wartete ich so eine ganze Weile und blickte jedem herannahenden dunkelhaarigen Italiener (meistens kann man die ja ganz gut von den Touristen unterscheiden, sind besser gekleidet) tief in die Augen, während ich gleichzeitig mit einem oder zwei Fingern unauffällig auf meine Jacke zu deuten versuchte. Aber keiner achtete auf meine Zeichen, und die Minuten verstrichen zu fünft, zu zehnt und mehr. Plötzlich baute sich wie aus dem Nichts ein kleiner, gehetzt wirkender Asiate vor mir und fragte in sehr schlechtem Englisch, ob ich Nina sei. „Äh, yes“, erwiderte ich zögernd, „aber – you are not Giorgio, are you?!“ – „Oh yes, itali: Jiojio.“ Ich verstand; einer der vielen Asiaten, die sich ihren europäischen Gastlandbewohnern zuliebe einen für diese aussprechbaren Namen geben. Trotzdem seltsam, dachte ich, seine angebliche Schwester hatte am Telefon sehr professionell Italienisch gesprochen. Und Pseudo-Giorgio sprach noch weniger Italienisch als Englisch, das merkte ich schnell. In meiner Verdutztheit fragte ich dann tatsächlich etwas wie „And is your sister really your sister?“, fühlte mich irgendwie veräppelt in meiner romantischen Hoffnung, im Haus einer italienischen Familie aufgenommen und erst mal ordentlich mit Pasta bekocht zu werden, und sei’s auch gegen Geld und mit anderen Touris zusammen. Giorgio verstand meine unverschämte Frage zum Glück falsch und antwortete irgendwas anderes. Er und seine Schwester sind aus Thailand und er jobbt gelegentlich in ihrem Hostel, so viel bekam ich aus ihm heraus, aber auch nur auf ausdrückliche Nachfrage. Eigentlich schwieg er die ganze Zeit – auf immerhin gut fünfzehn Minuten Weg – und fragte mich auch nichts, wohl auch aus sprachlichem Unvermögen. So wurde es eine recht eigenartige abendliche Wanderung: Wenn wir nicht gerade schwiegen oder er mir mit der Hand und einem „this“ den Weg wies, kam ich mir vor wie eine neugierige Polizistin, die den armen thailändischen Schwarzarbeiter verhört. Ich sollte Giorgio noch anders erleben, aber dazu später.
Nach der ersten Nacht im Dreibettzimmer, die ich mit zwei in der Dunkelheit nicht erkennbaren weiblichen Wesen verbracht hatte – sie verließen das Haus schon in aller Herrgottsfrühe – , machte ich mich also auf den Weg der Wissenschaft. Für den hatte ich mir einiges vorgenommen, musste also schauen, dass alles zügig voranging. Da es aber nahezu unmöglich ist, sich bei einer Dreivierteldurchquerung Venedigs nicht zu verlaufen, wenn man gerade vier Jahre lang nicht da war, dauerte das Ankommen an meinem ersten Ziel, Ca’ Rezzonico, dann doch etwas länger als geplant. Damit ich beim Verirren bei Laune blieb, lief mir in einer Sackgasse Sonja über den Weg. Die heißt aber gar nicht wirklich Sonja, sondern eigentlich Songün, lebt in Dresden und ist vor acht Jahren aus der Türkei dorthin gezogen. Sie meinte, ihren wirklichen Namen könnten ihre deutschen Freundinnen nicht aussprechen, deshalb habe sie sich an Sonja gewöhnt. Und sie war hoch erfreut, als sie mein Deutsch hörte, sie konnte sich nämlich weder auf Englisch noch auf Italienisch, sondern nur auf Türkisch oder Deutsch verständigen und war so ein bisschen verloren dort jenseits der Alpen; noch dazu hatte sie Stöckelschuhe mit etwa acht Zentimetern Absatzhöhe an, „Ich dachte, ich fahre heute nur Boot“. Wir nahmen dann auch gemeinsam den Vaporetto, nachdem wir endlich die Station gefunden hatten. Ich fuhr mehr zufällig schwarz, aber Sonjagün meinte lächelnd, „Ich bringe dir Glück, du brauchst keine Fahrkarte.“ So war es dann auch, die Sonne schien, Venedig zog rechts und links des Canal Grande an uns vorbei und hatte sein Sonntagsgesicht aufgesetzt, niemand kontrollierte die Fahrkarten, und der Vaporetto setzte uns direkt an der Ca’ Rezzonico ab. Wirklich kunstinteressiert war Sonja nicht, was ich an ihrer sprudelnden Beschreibung eines „alten“ Bildes merkte, „total verrückt, was die Leute darauf machen, total verrückt!“ Ich glaube, sie wusste ohnehin nicht ganz genau, warum sie nach Venedig gekommen war. Sie wollte gern Salsa tanzen und hatte gelesen, es gäbe dafür donnerstags ein Lokal in Venedig, aber wo das war und wie es hieß, wusste sie nicht. Wir trafen uns nach getrennten Wegen zum Essen wieder, wo ich erfuhr, dass sie schon zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat – und das mit schätzungsweise Ende Dreißig. Offenbar suchte sie in Italien vor allem ein wenig Abenteuer und Abstand von allem. Zuletzt entschied sie aber, zwei Tage früher als geplant zurückzufliegen, zu ihrem Freund nach München, weil der sie ständig anrief und darum bat. „Aber ich weiß nicht, das ist alles noch nicht so ernst mit dem... Wenn der sähe, wie ich Salsa tanze, wäre er total eifersüchtig. Ist halt Türke.“
Dieses war der erste Teil. Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe. Schalten Sie also wieder ein und seien Sie dabei.

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