Fremdschämen ist so ein schönes neues Modewort, das ich zuerst nur aus dem Spanischen kannte - vergüenza ajena. Da sich das Phänomen inzwischen auf Deutschland auszubreiten scheint und ich es heute selbst wieder erlebt habe, will ich nun auch endlich einmal darüber schreiben.
Peinliche Momente sind ja dann am schlimmsten, wenn sich zwei Leute gleichzeitig schämen, sich dabei aber nicht gut oder gar nicht kennen (sonst wird es manchmal auch lustig). In solchen Situationen entsteht die Peinlichkeit auch dadurch, dass man einander zu fremd ist, um darüber unbefangen zu sprechen, etwa: "Mama, tut mir leid, aber diese Jacke macht dich ungefähr fünfzehn Jahre älter." Oder: "Oh tschuldigung, wusste ja nicht, dass du auf dem Klo sitzt, schließ doch ruhig ab - stinkt übrigens ziemlich."
Da ich vor kurzem erst umgezogen bin, kenne ich die Bäckereiverkäuferinnen in meinem neuen Veedel noch nicht besonders gut. Und die beiden, die ich heute kennenlernte, waren mir dann auch nicht sympathisch genug, um mit ein paar legeren Worten die entstandene Peinlichkeit zu übergehen. Dazu kam es so: Ich mag gern Brot mit vielen Körnern sowie Süßgebäck mit nicht allzu viel Mohn. In der Bäckerei hatte ich mir schon ein Brot mit schön vielen Körnern ausgesucht und liebäugelte mit einer Scheibe Mohnstollen, die sich dort in der Auslage räkelte und 95 Cent kosten sollte. Mohnstollen finde ich nun lecker, aber für 95 Cent, immerhin eine Mark neunzig für eine einzelne Scheibe, möchte ich nichts kaufen, das schon mehrere Stunden werdender Pappigkeit durch zu langes aufgeschnittenes Liegen hinter sich hat. Deshalb fragte ich die Verkäuferin, wobei ich mir glatt etwas spießig vorkam: "Ist die Scheibe da noch einigermaßen frisch?" Fast wären die Finger der Frau schneller gewesen als ihre Worte. Letztere waren etwa: "Ja klar, die is, ja doch, die ham wer erst...", während erstere blitzschnell Richtung Stollenscheibe gezuckt waren, um diese prüfend zu befühlen, sich aber in letzer Bruchsekunde besonnen und kurz vorher gestoppt hatten. Da schwebten sie nun, ihre Finger über meiner Stollenscheibe, und stürzten uns beide in die Peinlichkeit: Sie hatte ganz einfach das tun wollen, was man üblicherweise tut, um die Frische von Teigwaren zu überprüfen: Man befühlt und drückt sie ein bisschen. Ich hätte genau das Gleiche getan, wenn es bereits meine Scheibe Stollen gewesen wäre. So aber konnte ich nicht selbst fühlen, weil ich noch nicht zum Kauf entschlossen war, hätte aber auch ihre Fingerabdrücke nicht auf meiner potenziellen zukünftigen Stollenscheibe haben wollen. Und sie hatte das ganz genau erkannt, aber ihre Hand nicht mehr zurückhalten können. Nun schämte sie sich, ich schämte mich für sie fremd, weil ich ein solches Verhalten für eine Bäckereifachverkäuferin recht unprofessionell fand (und ein bisschen schämte ich mich auch wegen meiner spießigen Frage, die uns beiden ja erst den Schlamassel beschert hatte), und sie wusste nicht wohin mit ihren ausgestreckten Fingern. Um die Situation gerade zu biegen, ließ sie dann ihre Hand wenige Millimeter über dem Gebäckstück kreisen, so wie man prüft, ob eine Herdplatte noch heiß ist. Das trug auch nicht unbedingt zur Rettung ihrer Ehre bei und klärte nicht meine Frage, aber die Rettung nahte in Gestalt ihrer Kollegin, die breitschnäuzig dazwischenfuhr: "Oh ja der Mohnstollen, hab ich gerade erst aufgeschnitten und selber gegessen, is nämlich der einzige Stollen, den ich esse."
Puh. Geschafft. Wie wohltuend ist doch das Eingreifen einer unbeteiligten Person in einer Situation der Peinlichkeit! Nun konnte ich mich voll und ganz auf das Urteil der zweiten Verkäuferin verlassen und leichten Herzens meine Stollenscheibe kaufen, und die erste Verkäuferin konnte ihre Hand wegnehmen und musste mir nicht mehr beweisen, dass die Stollenscheibe noch frisch war. Ich habe dann die ganze schöne Scheibe als Abendbrotnachtisch gegessen, und sie schmeckte wirklich kein bisschen pappig. Ich war aber auch froh, dass keine fremden Finger sie befühlt hatten.
Dienstag, 28. Oktober 2008
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