Donnerstag, 15. Dezember 2011

Von der Christkalbung Mariens

 Treffen sich zwei Philologen (geschlechtsneutraler Plural). Der eine ist spanischer Germanist (SG), die andere deutsche Hispanistin (DH). Spontan einigen sie sich auf eine germanistische Semantikstunde.
SG: "Du, ich möchte lammen."
DH: "Oh, tut mir Leid, aber das wirst du nicht können."
SG: "Wieso, ich hab heute fast nichts gegessen."
DH: "Da verstehe ich die Verbindung nicht."
SG: "Na, ich lese gerade eine Geschichte über Werwölfe, und da heißt es, 'aus Angst vor dem Werwolf wollten die Schafe nicht mehr lammen'. Da habe ich gedacht, was für ein schönes Verb dafür, dass Schafe fressen, und gemerkt, dass ich auch Hunger habe."
DH: "Ah, aber nein, 'lammen' ist das Verb für das Gebären bei weiblichen Schafen. Wenn Schafe Junge kriegen, dann lammen sie. Sie bekommen Lämmer."
SG: "Ach! Und die Kuh?"
DH: "Kalbt."
SG: "Kalbt ein Kalb. Und das Pferd pfohlt?"
DH: "Nein, die Stute fohlt."
SG: "Wieso, ich dachte Pferd mit pf?"
DH: "Ja, Pferd, aber nicht Pfohlen."
SG: "Okay. Und der Esel?"
DH: "Die Eselin fohlt auch, die ist mit den Pferden verwandt."
SG: "Und die Sau?"
DH: "Ferkelt, ganz normal."
SG: "Und der Bulle?"
DH: "Der kriegt nichts. Der hat Hoden. Es scheint so zu sein, wenn ich es mir recht überlege, dass es im Deutschen jeweils ein spezifisches Verb für das Gebären bei Huftieren gibt. Denn Katzen und Hunde zum Beispiel werfen einfach, die haben kein spezifisches Verb."
SG: "Ach! Und was macht das Kamel?"
DH: "Nun, da das Kamel außerhalb der geographischen Notwendigkeitszone für ein deutsches Verb seines Gebärvorgangs heimisch ist, vermute ich, dass es auch einfach wirft oder Junge bekommt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Kamel ein Huftier ist..."
SG: "Okay, was macht dann die Wildsau, die hat Hufe, und wie heißen noch mal die Jungen?"
DH: "Richtig, die müsste frischlingen. Macht sie aber nicht. Die wird wohl auch Junge kriegen. Der semantische Kreis scheint doch enger zu sein, nur domestizierte Huftiere aus dem engeren deutschen Sprachraum."
SG:  "Also prototypensemantisch gesprochen, plus Hufe, plus Nutztier, plus lebend in Deutschland, Österreich oder der deutschsprachigen Schweiz, minus wild lebend?"
DH: "So scheint es auf den ersten Blick. Allerdings muss man wohl anerkennen, dass auch die Wildeselstute fohlen kann und vielleicht die Hirschkuh oder, Gott bewahre, am Ende sogar die Seekuh kalben könnten."
SG: "Womit wir mit der protosemantischen Eingrenzung wieder bei Adam und Eva wären."
DH: "In der Tat. Frustrierend. Da glaubt man, einmal das Universum in die Nussschale gepackt zu haben und bamm, ein neuer Urknall."
SG: "A propos Schöpfung. Gott müsste doch wohl menschen?"
DH: "Pfff... Also, beim Geschlecht und der daraus resultierenden Gebärfähigkeit Gottes würde ich ja ein Auge zudrücken, aber aus lexikologischer Sicht erlaube ich mir die Korrektur, dass Gott kinden müsste."
SG: "Ohne Zweifel, aber ich glaube, wir finden sogar einen größeren gemeinsamen Nenner: Maria christet!"
DH: "Formidabel! Brillant! Lass uns diese frohe Botschaft verbreiten!"
SG: "Darauf einen Dujardin."

Mittwoch, 23. November 2011

Hispania III: In Öl oder in Aspik?

Das Thema geht ja gut im literarischen Genre der Schwänke aus binationalen Beziehungen: Schwiegereltern und Essen. Das sind ja zwei Themen, werden Sie sofort spitzfindig ausrufen. Gehören aber in diesem Fall zusammen wie Eiweiß und Eigelb. Denn merke: Nichts (außer vielleicht dem Humor) unterscheidet uns mehr von unseren europäischen Brüdern und Schwestern als unsere Essensgewohnheiten. Sie erinnern sich vielleicht an "Maria, ihm schmeckt's nicht" von Jan Weiler. Eben. Da muss der arme deutsche Schwiegersohn mit dem komischen italienischen Essen fertig werden. Oder nehmen Sie "Meine kaukasische Schwiegermutter" von Herrn Kaminer. Der erzählt dort unter anderem, wie schwierig es ist, im Kaukasus fachgerecht Melonen zu essen und dass man dabei unbedingt das Geschlecht der Melone beachten muss. Dabei ist der Herr Kaminer selbst ein Russe, eigentlich.
Nun ist es ja gottlob so, dass sich bei Partnern aus verschiedenen Kulturen der nicht in seinem Heimatland Lebende in der Regel an sein Gastland zumindest teilweise anpasst. Ich persönliche lobe mir diese Regel, denn anderenfalls käme ich als Fetischist des gemeinsamen üppigen Sonntagsfrühstücks daheim mit Sergio wohl kaum auf meine Kosten. Der gemeine Spanier frühstückt ja gern nur ein Glas Wasser, bestenfalls noch eine kleine tostada mit Öl, wirklich gegessen wird erst später was. Kaum ein Europäer hingegen, zumindest nicht südlich des Ärmelkanals, frühstückt so viel und so lang wie der Deutsche. Hand aufs Herz, haben Sie sich nicht auch im vergangegen Jahr mindestens fünfmal zum Frühstücken oder Brunchen verabredet? Wobei Brunchen ja nur der Ausredebegriff für Spätaufsteher ist, die gereichten Speisen und deren Mengen unterscheiden sich kaum. Leckere Brötchen aus verschiedenen Mehlsorten, zwei bis drei pro Person, dazu Marmeladen- und Honiggläschen, Käse, Wurst, Schinken, Eier, rohes Gemüse in Scheiben, fertig angemachtes Müsli mit Joghurt und Früchten, dazu Kaffee oder Tee, Saft und eventuell Sekt sollten schon bereit stehen, sonst gilt der Tisch als eher kärglich gedeckt. Das Essen all dieser Speisen darf sich dann gern über mehrere Stunden erstrecken, und wenn gerade nicht Sonntag ist, darf der Tag dennoch für die meisten hierzulande nicht ohne eine Scheibe Brot mit was drauf beginnen; manch einer soll sogar den Luxus eines Familienmitglieds haben, das jeden Morgen frische Brötchen vom Bäcker holt.
Mir war nun schon öfter aufgefallen, dass wir in puncto Frühstück höchstens mit den Briten, wenn die uns das Dazustellen eines Marmeladengläschens bei gleichzeitigem Wegnehmen eines Würstchens pro Kopf gestatten, die europäische Einigung vollziehen können. Während meines Italienaufenthaltes sorgte ich unter den übrigen Wohnheimbewohnerinnen für einiges Tuscheln und hin und wieder neugierig-fassungslose Fragen ob meines in seiner Üppigkeit schon stark reduzierten Brotfrühstücks mit Käse. Die lieben Italienerinnen tauchten in schöner Herdeneinigkeit stoisch morgens ihren Keks in den Kaffee und nahmen weiter nichts zu sich. Der Deutsche müsste also schon von seinem Frühstück recht mollig sein, wird sich der Südeuropäer denken. Und wenn er kein Frühstück bekommt, neigt er zur schlechten Laune. Da ist was dran. Aber ha, es gibt ja noch ein paar andere Mahlzeiten am Tag! Und da sind wir nun wirklich unkompliziert, essen wir doch die Speisen aller Herren Ländern fast häufiger als unsere eigenen (oder erinnern Sie sich an Ihren letzten Sauerbraten? Nein? Aber ans Falafel, oder?) und sind meist auch in der Uhrzeit recht flexibel.
Das ist beim gemeinen Mittelmeerbewohner schon anders. Ich hatte da während des Auslandsstudiums schon so einige Erfahrungen mit Italienern gemacht, die alle naselang von Frankreich heim nach Italien fuhren (immerhin fünf Stunden die einfache Zugfahrt), um – jawohl! Olivenöl, Pasta und Kaffee zu holen. Wenn es schon in Frankreich kein anständiges Essen gab, musste man wenigstens zusehen, dass man zum Kochen was Anständiges von zu Hause herbrachte. Man wäre sonst vom Fleische gefallen, wie hätte man sich von dem Fraß aus französischen Supermarktregalen ernähren sollen. Und jeder Italiener hatte natürlich seine eigene caffettiera mit, die kleine Alukanne. Ehrensache. Heiligtum.
Heilig sind dem Spanier, um wieder zur Nation im Zentrum meines Interesses zurückzukehren,  auch und vor allem seine Essenszeiten. Fahren Sie mal nach Spanien und versuchen Sie, zwischen 17 und 19 Uhr was zu essen zu bekommen. Fehlanzeige. Se come a las tres, se cena a las diez. Mittag um 15 Uhr, Abend um 22 Uhr. Mag uns komisch und vor allem reichlich spät vorkommen, ist aber so. Deshalb sollte man auch tunlichst zusehen, dass man während des Spanienurlaubs je eine Viertelstunde vor drei und vor zehn seinen Tisch eingenommen hat, denn dann wird es schlagartig so voll und die Kellner so vielbeschäftigt, dass man sich schon durchsetzen können muss, um anständig bedient zu werden. Und wer zu spät kommt, den bestraft dann eben der Hunger.
Eine weitere interkulturelle gastronomische Differenz ergibt sich nicht selten aus den jeweiligen Vorlieben für gewisse Zutaten des Essens, deren Menge und Aggregatzustand. Beispiel: Sergio und seine Mutter sind, wie die meisten Spanier, davon überzeugt, etwas in der Pfanne zu Bratendes – was auch immer das sei – müsse in Öl schwimmen. Nicht liegen. Schwämme es nicht, würde es anbrennen, so die Überzeugung, gegen die ich mich anfangs zu stemmen versuchte mit dem Hinweis, ich könne nicht immer so fettige Speisen essen, mein zarter deutscher Magen vertrage das nicht (und ich bin im Grunde nicht das, was man hier im Norden krüsch nennt). Und hinterher ist ja auch immer die Frage: Wohin mit dem ganzen Öl, das in der Pfanne zurückbleibt? In gut ausgestatteten mediterranen Haushalten (auch der Italiener wäre ja ohne Olivenöl nur ein halber Mensch, wie wir wissen) gibt es dafür einen extra Kanister, der dann vermutlich an irgendeiner geheimen Altölentsorgestelle entsorgt wird. Vielleicht kommt auch jemand vorbei wie mein iranischer Automechaniker, der ein Jahr lang sein Auto mit altem Bratöl betankte ("Schön billig, aber hinten stinkt wie Pommes!").
Ja, und worauf betten wir Nordischen gern unsere Speisen, wenn nicht gerade auf Butaris Butterschmalz? Nun, eine sehr traditionelle und zünftige Art der Speisenbettung war sehr beliebt in meiner niederrheinischen Heimat, und ich verkaufte sie gern und oft in meiner Zeit als Fleischerei-Aushilfe: Sülze, oder allgemeiner: Aufschnitt in Aspik. Dazu befüllt man einfach eine Plastikhülle in runder oder eckiger Form mit flüssiger Gelatine, schmeißt ein paar Gewürze, ein bisschen Gemüse und ordentliche Fleischbrocken rein und lässt das Ganze erkalten, fertig ist die Aspikwurst. So eine Schweinskopfsülze gehört schon auf eine ordentliche niederrheinische Schlachtplatte. Ja, und nun seien wir doch mal ehrlich: Öl mag unterm Strich dicker machen als Gelatine, aber welches andere schlagkräftige Argument will man als Mensch der modernen Gesellschaft, stamme man nun von nördlich oder süd(west)lich der Alpen, für in Aspik erstarrte, kalte Fleischklumpen, die kein bisschen erwärmt aufs Brot geschnitten werden, anführen? Und wenn dann in dem Glibber auch noch ein tatsächlicher Schweinskopf kleingeschnibbelt enthalten ist, kauft einem das Zeug hierzulande keiner unter 50 ab. Und der gute Spanier würde wohl den Schweinskopf essen, lecker Bäckchen, lecker Öhrchen, aber sowas gehört dann kross gebraten (jawoll, in Öl) und nicht in farblosem Glibber sterilisiert. Ich könnte noch anführen, dass ich es als Kind toll fand, dass man von außen quasi durch die Substanz der Wurst auf die Fleischbrocken gucken konnte, die da in ihrer erstarrten klaren Brühe schwebten. Ich fand auch diese durchsichtigen Telefone gut, bei denen das ganze technische Innenleben entzaubert vor einem lag. Aber habe ich die Sülze deshalb gemocht? Nun ja. Ich habe sie ein paarmal gegessen, quasi als ethnologische Studie. Als Aushängeschild der deutschen Gastronomiekultur empfehlen würde ich sie nicht.
Da wäre ja aber noch, wird nun die eifrige deutsche Hausfrau anführen, die gute Bratensoße, angerührt mit meinem Mondamin Fix-Soßenbinder. Die gehört ja wohl aufs Fleisch und erst recht auf die Kartoffeln, damit man sie darin zerdrücken kann. Und wenn's keinen Braten gibt, dann gibt es trotzdem auf jeden Fall eine Soße. Egal was drunter ist. Diese Tradition ist aus keiner deutschen Kantine wegzudenken. Auch die meisten italienischen Restaurants in Deutschland haben sich daran angepasst, weil dem deutschen Gast im Grunde nichts ohne Soße schmackhaft zu machen ist. Und wenn man absolut nicht weiß, wie  so eine Soße geht, dann gibt es die ja auch noch in hundert Varianten in der Flasche, Curry, Zigeuner, Steak oder Cocktail. Die spinnen, die Deutschen, hörte ich da schon manchen Südeuropäer sagen. Und bei uns zu Haus kommt so schnell keine Soße auf ein Stück Fleisch, auch die Kartoffeln werden vehement dagegen abgeschirmt. Ertränk doch Dein eigenes Essen, heißt es da panisch. Ha. Da haben wir ihn doch endlich am Wickel, den eigentlichen kulturellen Unterschied. Der echte Südländer ertränkt sein Essen während des Bratens und rettet es dann, der grausame Deutsche wartet, bis es tot und gar ist und ersäuft es dann noch mal extra.

Montag, 13. Juni 2011

Kritik des unreinen Schlafanzugs


Der geneigte Leser mag sich wundern, warum mich hier im herrlichen Venedig scheinbar nichts anderes umtreibt als Kleidungsstücke an Tieren und Menschen. Ich mache hier aber diesbezüglich auch unglaubliche, nie vermutete Erfahrungen, wie man mir nach der Lektüre des letzten Beitrags schon beipflichten wird – und es geht noch weiter.
Ich wohne nun hier, eigentlich ganz gegen meine Überzeugungen, aber für meine Geldbörse, in einem katholisch geführten Studentinnenwohnheim (ja, die Haustür wird tatsächlich um Mitternacht verschlossen, aber man darf sich einen Nachtschlüssel leihen). Der Kenntnislose wird sich bei dieser Bezeichnung gleich allerhand vorstellen: Ein Wohnheim voller katholischer italienischer Studentinnen, oh là là, das kann nur heißen: Horden von eleganten, schönen, stets gepflegten und in besten Zwirn gekleideten Südländerinnen, die gern mal lachend ihr traumhaft lockiges Haar schütteln, ansonsten aber züchtig den Blick gesenkt halten und sonntags brav zur Messe gehen. Sogar ich stellte mir ähnliche Dinge vor und packte ängstlich meine schicksten Kleidungsstücke, zwei Sonnenbrillen und allerhand Kosmetika ein, um mich nur ja nicht zu blamieren vor den mich ständig umflatternden grazilen Schönheiten.
Im neuen Heim angekommen, bekam ich dann aber einen gänzlich unerwarteten Kulturschock: Die Tatsache, dass die hauseigene Kapelle lediglich für (weltliche) Gruppentreffen und Filmvorführungen genutzt wird und auch sonst der Katholizismus in diesen Mauern ein sehr verstecktes Dasein führt, erleichterte mich ja noch. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten aber erschloss sich mir zum ersten Mal, was sich dann mehr und mehr als hausinterne, omnipräsente Regel erwies: Die junge italienische Frau von heute sieht nicht nur kein bisschen aus wie Berlusconis Ruby, sie verbringt zudem ihr gesamtes Heimleben im Schlafanzug. Und da die italienische Studentin durchaus nicht jeden Tag an die Uni muss, sondern sich gern ganztags dem häuslichen Studium widmet, kommt es des öfteren vor, dass der Schlafanzug das einzige Kleidungsstück bleibt, das im Laufe von 24 Stunden ihre jugendliche Haut berührt. Und wenn ich sage Schlafanzug, dann meine ich nur in den günstigsten Fällen eine Untertreibung für Jogginganzug. Bitte: Haben Jogginganzüge hellblaue Bärchen oder rosa Blumensträuße als Kleinmotivdruck?
Damit wir uns richtig verstehen: Auch ich trage Schlafanzüge. Ich trage sie nachts zum Schlafen, wie der Name schon vermuten lässt. Manchmal frühstücke ich sonntags im Schlafanzug, wenn ich mir ein Gefühl von zeitlicher Freiheit geben will. Zuweilen bleibe ich auch krankheitsbedingt den ganzen Tag im Bett und habe dabei einen Schlafanzug an, im Winter sogar zwei, gegen die Kälte. Ansonsten aber pflege ich den Schlafanzug tagsüber gegen sogenannte Straßenkleidung einzutauschen, auch wenn ich mich nicht den ganzen Tag auf der Straße bewege. 
Dass das Wechseln der Straßen- gegen bequeme Hauskleidung nach dem Betreten der heimischen vier Wände eine vor allem im Mittelmeerraum verbreitete Sitte ist, erschloss sich mir schon bei anderen Kontakten mit den dortigen Kulturen. So zum Beispiel, als mir eine in Spanien lebende deutsche Bekannte erzählte, mit welcher nervösen Inbrunst ihre Schwiegermutter sie aufgefordert habe, sich doch daheim endlich etwas Bequemes anzuziehen, nachdem sie schon eine halbe Stunde herimgekehrt war und immer noch Rock und Strumpfhose trug. In ihrem spanischen Dorf war der Jogginganzug das an tagsüber auf der Straße herumsitzenden Männern meistgesehene Kleidungsstück. Diese Einstellung hat vielleicht etwas mit der auch hierzulande nicht unbekannten Angst zu tun, das was man zu Hause trägt, könnte durch Kochen oder andere Heimaktivitäten dreckig werden. Meine Großmutter trug aus diesem Grund meist eine Kittelschürze – ein heutzutage nahezu verschwundenes Kleidungsstück. Darunter pflegte sie, zumindest im Sommer, nur ihre Unterwäsche zu tragen, die Kittelschürze ersetzte gern die übrige Kleidung. Und da meine Großmutter zur Generation der hauptberuflichen Hausfrauen gehörte, sich also recht viel zu Hause aufhielt, sah ich sie den Großteil meiner Kindheit praktisch nur in Kittelschürze. Wenn Oma dann einmal ausging – etwa mit mir zum Spielwarenladen, oder wenn sie Geburtstag hatte, zog sie sich schick an. Und ich entdeckte jedesmal nie gesehene Kleidungsstücke an ihr, hatten sie doch stets sauber und ordentlich gebügelt im Schrank gehangen. 
Abends jedoch zog meine Großmutter ihre Kittelschürze aus und tauschte sie gegen ein Nachthemd ein. Und genau deshalb überlege ich, meinen italienischen Wohnheimmitbewohnerinnen bei Gelegenheit den Kauf von Kittelschürzen als Ergänzung zu ihren Schlafanzügen vorzuschlagen. Denn was nützt das ganze Nichtbeschmutzen von schöner Straßenkleidung im Hause, wenn man nach einem langen, im Schlafanzug verlebten Tag diesen befleckt und/oder beschwitzt hat? Und sich dann – denn das ist doch wohl der eigentliche Skandal – mit ebendiesem befleckten und/oder beschwitzten Schlafanzug ins Bett legt und schläft, nur um am nächsten Morgen aufzustehen und möglicherweise wieder den ganzen Tag im selben Gewand zu verbringen? Übrigens wird in der italienischen Wohnheimküche gern mentalitätsgemäß mit schön viel Olivenöl gekocht, dessen Spritzer der Schlafanzug aus der guten supergekämmten Baumwolle dann ordentlich aufsaugt. 
Ich kann und musste also das gängige  und mein eigenes Bild der jungen italienischen Studentin korrigieren: Sie ist im Durchschnitt nicht hübscher als ihre zentraleuropäischen Pendants, dazu macht sie der Geruch nach Küche und Körperdunst, den sie in ihrem auch schon mal 48 Stunden lang getragenen Schlafanzug mit sich führt, nicht unbedingt sexier. Und wenn sie schöne Kleidung hat, dann trägt sie die bestenfalls mal sonntags zum Ausgehen, ansonsten hängt sie fein säuberlich im Schrank. Dort fehlt wiederum eins: die Kittelschürze. Ich propagiere die sofortige Wiedereinführung dieses Kleidungsstücks auf europäischem Niveau. Damit auch unsere südeuropäischen Nachbarn im Schlaf nicht mehr nach Küche riechen müssen.

Sonntag, 27. Februar 2011

Wenn die Hunde Jacken tragen

Das Gute am Thema dieses Eintrags ist, dass ich es nicht vergessen kann. Es läuft mir nämlich jeden Tag über den Weg. Denn ja, ich muss gestehen, dass ich manchmal Einfälle für Blogtexte habe und sie dann wieder vergesse. Ich verdächtige als Vergessenszeitpunkt die frühen Morgenstunden, genauer den Schlaf, in dem ich mich während dieser meist befinde. Es ist nämlich so, dass mir die Einfälle in der Regel irgendwann über Tag kommen und ich sie dann nachts im Bett, vorm Einschlafen, bebrüte. Ich gehöre schaffensmäßig wohl eher den Eierlegenden als den Säugetieren an, meine Jungen schlüpfen erst nach einer gewissen Brutzeit. Diese beträgt eine oder mehrere Nächte, je nach Größe des Eis. Aber manchmal, wenn ich schlafe, muss wohl eine Elster oder ein Marder kommen und das Ei stehlen, denn manchmal sind die Einfallseier am nächsten Tag weg, und ich muss erst wieder darauf warten, dass der Storch mir ein neues vom Himmel schmeißt. Nicht so mit diesem Ei-nfall. Er grüßt mich täglich wie das Murmeltier, und jetzt, zur venezianischen Karnevalszeit, wird er sogar täglich rabiater in seinem Heischen um Aufmerksamkeit.
Die Venezianer haben allem Anschein nach, das habe ich hier gelernt, ein besonderes Verhältnis zu ihren Hunden. Das fängt schon damit an, dass hier, in einer Stadt aus Wasser und Stein, wo es nur in versteckten privaten Gärten mal ein Fleckchen Gras und ein paar verschüchterte Bäumchen gibt, erstaunlich viele Hunde gehalten werden. Den Hund an sich assoziiert der tierliebe Mensch ja am liebsten mit Hof, Wald und Feld, allgemein doch aber eher mit einem grünen, weitläufigen Umfeld. Beides ist in Venedig ausgeschlossen, die Hunde aber trotzdem zahlreich. Ihre Haufen, wie der kluge Leser gleich geschlussfolgert haben wird, verhalten sich ganz regelmäßig relativ zur Anzahl der Tiere. Venedig ist für den Fußgänger quasi ein Labyrinth im Labyrinth: Da man ständig auf den Steinboden schaut, um nicht in die nächste Hundehinterlassenschaft zu treten, verpasst man zwangsläufig die richtige Abzweigung und geht beständig im Kreis.
Und meistens sehen besagte Hunde, das erklärt vielleicht schon ihr Dasein, so kunstvoll aus wie die Architektur, durch die sie trippeln. Viele sind so klein, dass sie gar nicht laufen können oder sollen, sondern in eigens dafür angefertigten Körbchen oder Rucksäckchen getragen werden. Wahrscheinlich haben diese Hunde der Hygiene zuliebe eine Windel an, so genau konnte ich das nicht überprüfen. Und ich sah hier zum ersten Mal wieder einen Pudel, wie man ihn eigentlich nur aus Cartoons kennt: mit teilrasierten Beinen und plüschigen Pfoten, einem auffrisierten Brustmantel und – traurig, aber wahr – zu drei Zöpfen geflochtenem Kopffell. Offenbar war auch dieser Hund, wenngleich recht groß, nicht zum Laufen gedacht, denn ich war die volle Spazierzeit an einem Kanälchen entlang zugegen, da mein Weg mich in dieselbe Richtung trug, und nach geschätzten 300 Metern war's auch schon vorbei mit Gassi und das Pudelexemplar wurde von seinem Herrchen wieder heimgeführt.
Was aber 90 Prozent der venezianischen Hunde eint, ist ihre Kleidung. Ja, richtig, nicht Fell, Kleidung. Gut, es ist entgegen landläufiger Meinungen auch hier im Veneto noch nicht Sommer, man holt sich  schon mal leicht in der trügerischen Wintersonne einen Schnupfen weg. Doch glaubt der Venezianer an sich offenbar nicht an die Eingerichtetheit der Natur auf verschiedene Jahreszeiten, vielleicht hat er auch in seiner Kunst-Stadt schlicht noch nie davon gehört, dass Tieren für gewöhnlich ein Winterfell wächst und ihre Vorfahren, evolutionsgeschichtlich häufig steinalt, wohl darauf achten mussten, vom Menschen nicht das eigene Fell über die Ohren gezogen zu bekommen, aber doch eher nicht darauf angewiesen waren, von selbigem Kleider genäht zu bekommen. Der Venezianer jedoch hat, das ist bekannt, sich schon immer gern über die Natur erhoben und sie nach seinem eigenen Bilde geformt. So tut er es auch heute noch mit seinem Hund, indem er ihn nicht ohne Jacke aus dem Haus gehen lässt. Der venezianische Hund trägt – ganz anders als der andalusische – heute gern knallige Farben und sportliche Stoffe, gern mit farbigen Aufdrucken wie etwa dem eines Basketballteams (das ist dann wohl der Sportanzug), nicht selten aber auch das kleine wollene Schwarze, und zum Karneval darf's auch von (falschen?) Edelsteinen funkeln, dazu darf ein Häubchen auf dem Wuschelkopf nicht fehlen. Gern darf Schätzelein auch die gleiche schwarz-glänzende Daunenjacke tragen wie Frauchen, und natürlich hat sein Mäntelchen eine große aufgenähte Tasche, in der das liebe Tier seine wichitgen Unterlagen transportieren kann. Weiter gibt es alle Hüft- und Beinlängen, ob mini oder maxi, mit Rollkragen oder V-Ausschnitt. Ich schätze, der venezianische Hund hat seinen eigenen Kleiderschrank, vermutlich gleich neben seinem eigenen Bad. Vielleicht hat er auch das Sprechen erlernt; ich habe mich bisher nicht getraut, einen anzusprechen, ist ja unhöflich bei so feinem Volk.
Mir fällt nun gerade Ei-n, dass es im affektierten 18. Jahrhundert in Venedig, so zeigen es die Karikaturen meines Herrn Tiepolo, schon zum Tanzen abgerichtete Hunde gab, die ebenfalls Kleider trugen. Und ich glaube, ich werde als Geschäftsidee hier eine Hunde-Showtanzgruppe einrichten, mit der ich dann nächstes Jahr zu Karneval auftrete. Im Tutu oder gleich im stilechten Gewand des 18. Jahrhunderts. Das wird der letzte Schrei.

Sonntag, 6. Februar 2011

Die Möwen scheißen auf den Löwen

Der Vorteil aller Tiere – von denen ich für diesen Moment den Menschen mal ausschließe – ist ja, dass sie sich keine Gedanken um abstrakte Werte machen müssen. Um den moralischen Wert von Zeugnissen der Geschichte zum Beispiel.
Ich bin überzeugt, dass Venedig ein beliebter Aufenthaltsort nicht nur für Menschen, sondern auch für Möwen ist. Es gibt viel Wasser und viel Fisch, die Stadt ist von überall meerseitig zugängig. Da lebt es sich gut als Möwe. Fliegen, fressen, schwimmen, was will die Möwe mehr. Als Mensch hat man es da schon schwieriger: Mühsam muss man sich Venedig erlaufen und sich in ihm mindestens zweimal pro Tag verlaufen, um von A nach B und C zu kommen. Das Essen ist fast überall teuer, und schwimmen tut unsereins hier höchstens mal in einer Gondel, und das ist dann auch wieder teuer.
Ist man dann endlich am vielbesungenen Markusplatz angekommen, auf dem man voller Ehrfurcht vor der Serenissima niederknien will, muss man feststellen, dass man vor lauter Artgenossen den Platz nicht sieht, dass man ständig einer fremden Kameralinse im Weg steht, dass man sich auf dem Welthauptumschlagplatz fernöstlicher Plastikversionen wertvoller Accessoires befindet und dass der Untergrund, auf dem man steht, ein Mix aus Tauben- und Möwenkot ist. Resigniert lässt man den Blick hinüber nach San Giorgio Maggiore schweifen, das leider im Moment unerreichbar weit weg erscheint, bis die Augen schließlich vom Palazzo Ducale hochwandern zum Kopf der beiden hehren Säulen, die seinerzeit jahrhunderlang den von See her kommenden Reisenden herrschaftlich empfingen. Und dort oben steht er seit jeher trutzig, der bronzene Löwe, und ihm gegenüber wacht sein Herr Markus über das Stadttor. Der Markus steht auch weithin unbehelligt, aber wissen Sie was? Der Löwe ist ganz beschissen. Die Möwen, die sich keinen Deut um grandezza und Historie scheren, sitzen sehr gern auf des Löwen Kopf und Rücken. Und natürlich nehmen sie das Sitzen (wie unsere Spezies leicht nachvollziehen kann) gern zum Anlass, einmal in Ruhe ihr Geschäft zu verrichten. Und so ist der Löwe, da bin ich sicher, in der Draufsicht nicht bronzefarben, auch nicht grün-Bronze oxidiert, sondern weitgehend weiß. Schauen Sie mal in Google Earth auf die Piazza San Marco, und Sie sehen nichts als bunte Schirmmützen und einen vollgeschissenen weißen Löwen. Weil das alles nicht so schön anzusehen ist und Ihnen jetzt vielleicht, völlig zu recht, die Lust auf einen Venedig-Besuch vergangen ist, habe ich zwei Bilder zur Beruhigung Ihres ästhetischen Empfindens gemacht, die ich Ihnen hier zeige – und Sie können sich beruhigt an einem richtig schönen goldenen Löwen und einer richtig unschuldigen süßen Möwe erfreuen.
Löwe

Möwe

Und das Beste: Sie können sich das viele Geld für den eventuell geplanten Vendig-Besuch sparen. Wie gesagt: Nicht viel mehr als China, Menschenmassen und Vogelscheiße.

Montag, 31. Januar 2011

Realitätsschöpfung als ganzheitliche Gymnastik

Hegen Sie auch den Wunsch, Ihrem Alltag von Zeit zu Zeit etwas mehr Pep zu geben? Nicht immer der Monotonie des Trotts zu folgen? Wie in der freien Natur Ihre Reaktionsfähigkeit und Flexibilität zu schulen? Einfach mal unverhofft Abenteuer zu erleben, etwas ganz Unerwartetes? Da habe ich einen Tipp für Sie. Versuchen Sie es mit der Schaffung einer eigenen Realität. Bauen Sie sich für eine Zeit Ihre eigene kleine Wahrheit auf, die gleichberechtigt neben der anderen, allgemeinen Wahrheit existiert, und erleben Sie, was passiert, wenn beide Wahrheiten plötzlich miteinander kollidieren. Sie denken an einen Seitensprung? Geht vielleicht auch. Aber ich möchte ein anderes Beispiel anführen. Sie sind nun eingeladen, mir in diesem kleinen Gedankenexperiment zu folgen.
Organisieren Sie einen längeren oder auch kürzeren, in jedem Fall für Ihr weiteres Leben bedeutungsvollen Auslandsaufenthalt und buchen Sie möglichst früh einen Flug dafür. Wenn es noch Schnäppchen gibt. Freuen Sie sich dann, dass Sie den Flug so günstig bekommen haben und legen Sie das Ganze gedanklich erst mal ad acta, denn Sie haben ja noch viel Zeit bis zur Abreise.
Wenn der Zeitpunkt langsam näher rückt, werden die Menschen in Ihrem Umfeld Sie automatisch häufiger auf Ihr Vorhaben ansprechen. Sie werden vor allem gefragt werden, wann's denn nun losgeht. Sprechen Sie darüber. Sie müssen nicht noch einmal in Ihre Unterlagen schauen, denn die Reisedaten haben sich unauslöschlich in Ihr Hirn eingebrannt. Erzählen Sie, wann der große Tag ist, das macht die Sache fassbarer und steigert die Vorfreude. Markieren Sie das Datum in Ihrem Kalender und erzählen Sie allen davon, Ihren Kollegen, Eltern, sofern noch vorhanden, Kindern, sofern schon vorhanden, Ihren Freunden von Usedom bis Konstanz und am besten auch Ihren Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen. Sie werden merken, wie nah Sie durch die Erzähltradition selbst innerlich diesem schönen, großen Tag kommen.
Wenn schließlich nur noch etwa 48 Stunden fehlen, leiten Sie die konkreten Vorbereitungen ein. Waschen, trocknen, Postverwaltung organisieren, Rechnungen bezahlen, verabschieden hier und da, Abwesenheitsassistenten im Mailprogramm einrichten und so weiter. Schließlich packen. Sie müssen jetzt nur noch ein Mal schlafen.
Der große Tag. Stehen Sie in aller Ruhe auf, frühstücken, duschen und was Sie sonst noch so tun, packen Sie die letzten Kleinigkeiten ein und freuen Sie sich, wenn Ihr Partner Sie zum Flughafen begleiten kann. Fahren Sie schließlich zum Flughafen, Ankunft anderthalb Stunden vor Abflug, genügend Zeit für alles. Gehen Sie zum elektronischen Check-In für Ihren Linienflug und geben Sie Ihre Daten ein. Wenn das nicht klappt und der Automat Ihnen etwas von der geringen verbleibenden Zeit bis zum Abflug erzählt, wegen der der elektronische Check-In nicht durchgeführt werden könne, lassen Sie sich nicht beirren. Sie wissen ja, dass Sie noch mehr als genug Zeit haben. Seien Sie auch ganz gelassen, wenn eine freundliche Dame vom Bodenpersonal sich Ihnen zur Hilfe anbietet und geben Sie Ihr spaßeshalber den Ausdruck mit Ihrem Buchungscode zur Ansicht. Und nun, liebe Leserin, lieber Leser, erleben und genießen Sie das einzigartige Gefühl des Zusammenpralls zweier Realitäten,  Kulturwisenschaftler sprächen von einem Clash of Realities, wenn die nette Dame Ihnen mit Bedauern in der Stimme sagt: "Nun, dieser Flug war gestern, am Dreißigsten, heute ist der Einunddreißigste."
Ich verspreche Ihnen, es dreht sich Ihnen buchstäblich der Magen um. Blut schießt Ihnen ins Gesicht.  Monatelang haben Sie unermüdlich Überzeugungsarbeit an sich selbst und anderen für das Faktum geleistet, dass Sie am 31. reisen und sich für längere oder kürzere, in jedem Fall für Ihr weiteres Leben bedeutungsvolle Zeit verabschieden. Und nun kosten Sie bitte diesen Moment aus, wenn das überzeugend geschaffene Faktum plötzlich kollidiert mit der leider unveränderlichen Realität des Sie umgebenden Zeit-Raum-Kontinuums. Genießen Sie, sobald Sie sich vom ersten erholt haben, einen weiteren Adrenalinschub und fühlen Sie, wie Ihnen das Herz in die Hose rutscht, wenn die Dame am Lufthansa-Schalter Ihnen erklärt, dass der Rückflug nun auch automatisch verfällt, weil Sie die Schnäppchenklasse gebucht haben, und dass eine Umbuchung zu ähnlichen Zeiten satte 800 Euro kosten würde. Aalen Sie sich schließlich als Sahnehäubchen in dem erleichternden Gefühl, wie vergleichsweise billig doch 200 Euro sein können, für die Ihnen die Dame am Last-Minute-Schalter einen Flug am nächsten Tag verscherbelt. Bedenken Sie, Sie haben gerade ein unvergleichlich spannendes Wechselbad der Gefühle bekommen für lächerliche 200 Kröten! Sollten Sie wohlhabend sein, empfehle ich Ihnen den Spaß geradezu jeden zweiten Tag!
Aber besagter Spaß ist noch nicht ganz vorbei, ein kleines Betthupferl gibt' noch mit auf den Weg: Sie befinden sich jetzt nämlich bis zu Ihrer Ankunft am geplanten Zielort in einer Raum-Zeit-Blase, auf einer Art existenziellem Nebenpfad. Eigentlich und der Aussage eines gedruckten Datensatzes zufolge wären Sie schon einen Tag vorher am Ort Ihrer Bestimmung gewesen, wären also in diesem Moment schon da. Ihrer bis vor kurzem realen Überzeugung gemäß wären Sie jetzt gerade auf dem Weg dorthin, vielleicht gerade in der Luft. Auch Ihre Freunde, Verwandten und Kollegen wähnen Sie dort. Beides trifft aber nicht zu, denn Sie haben den Pfad der Planung des Seins willentlich oder unwillentlich verlassen und schlagen einen Haken durch Zeit und Raum. Abgefahren, sage ich Ihnen. Ich kann Ihnen das nur ans Herz legen. Bin nun auch schon ganz gespannt, wie es wird, wenn ich morgen aufbreche, um in mein ursprünglich vorgesehenes Kontinuum zurückzukehren. Und vor allem, wann ich dort ankomme.

Montag, 27. September 2010

Karate Kids Gnadenbrot

Ich war ja nie ein besonderer Freund (und auch keine Freundin) der typischen Mädchensportarten. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch war ich für alles Tänzerische und Turnerische zu plump, und später wollte ich lieber meine männliche Seite betonen und entschied mich für Kampfsport, wo ich mich bekanntermaßen noch immer gern balge. Nun kamen aber zwei Ereignisse zusammen, die mich meine Einstellung überdenken ließen: Erstens las ich kürzlich einen Text von Elizabeth Gilbert, der Dame, die die Literaturvorlage zum jetzt erschienenen Film "Eat. pray. love" lieferte. In diesem Text erzählte Frau Gilbert von ihrem Yoga-Erweckungserlebnis. Das trug sich dergestalt zu, dass Frau Gilbert gar nicht wusste, was das ist, Yoga. Aber sie hatte immer Rückenschmerzen und deshalb schickte eine Freundin sie zur Yogastunde. Und als sie so schwitzend dalag und in einer Übung ihre Wirbelsäule dehnte, schrie die Wirbelsäule plötzlich "Jaaaa, das will ich, das habe ich immer gewollt!" oder so ähnlich. Und von da an hörte Frau Gilbert nie mehr auf, Yoga zu machen, und ihre Wirbelsäule sprach weiter freundlich zu ihr und tat nicht mehr weh.
Tags darauf (das gehört immer noch zu erstens, ich wollte nur mal einen Absatz machen) erzählte mir dann eine Freundin von ihren gerade gemachten ersten Yogaerfahrungen (ohne dass wir zuvor über Frau Gilbert gesprochen hätten), und sie kam schließlich zu dem Satz: "Ich weiß nicht, irgendwie sagt mein Körper immer so 'ja!' bei allen Yogaübungen." Da durchfuhr es mich dann doch wie ein Potzblitz. Zwei Frauen, zwei Leben, die sich nie gekreuzt haben, zwei Geister, die nichts voneinander wissen, und beider Körper sagen das Gleiche zum Yoga! Und da haben wir noch gar nicht diskutiert, dass Körper überhaupt plötzlich zu ihren Besitzern sprechen!
Zweitens, und das ist nun das späte Zweitens, habe ich seit geraumer Zeit mit einer Ellbogenentzündung zu kämpfen, mit der man sich beim besten Willen nicht schmerzfrei kampfsportmäßig balgen kann. Da die Leibesertüchtigung nun aber nicht ganz wegfallen soll und ich ja gerade so viel Positives darüber gehört hatte, probierte ich es also aus: Yoga. Eine hierzulande doch eher von Mädchen betriebene Sportart, wie mir die meisten beipflichten werden. Aber sei's drum, mir tat der Arm weh und ich wollte mich trotzdem bewegen, und vielleicht hätte ich ja auch so ein Ja-Erlebnis.
Das erste Erlebnis der besonderen, auch besonders schönen Art, zugleich wohl der Grund, warum nur ein einziger Mann außer ihm in der Halle zu finden war, war der Yogi. Vielleicht darf man ihn auch gar nicht Yogi nennen und er war einfach nur der Trainer. Jedenfalls hatte er den Körper Gottes in seinen besten Jahren, dazu mokkacremefarbene Haut und hüftlange Dreadlocks. Ich vermute, dass er ein echter jamaikanischer Rastafari ist. Er spricht jedenfalls wie ein Inder, der lange in Holland gelebt und etwas zu spät, mit Anfang 20, angefangen hat, Deutsch zu lernen. Das Ureigenste seiner Sprache, vielleicht auch ein Einfluss des Yoga, ist, dass Singular und Plural in Harmonie miteinander verschmelzen. Das hat den schönen Effekt, dass man nie genau weiß, wer angesprochen ist und wie viele, dass sich also alle ganz schnell als ein einziges Wesen fühlen. Was sollte man auch anderes tun bei zart gesäuselten Aufforderungen wie "Wenn du kannst, streckt Sie (oder sie) die Hand zu eure Fuß". Oder "wenn sie (oder Sie) kann, dreh dich mit die andere Seite in die obere Richtung". Zeit, Zahl, Raum und Wesen werden eins, die Abgrenzung des Individuums von seiner Umwelt verschwimmt zu einer undeutlichen Erinnerung an früher. Am schönsten und, wie ich später lernte, für den ganzen Wohlfühlsportkontext wichtigsten ist aber die mantrahaft wiederholte Mahnung "Nimm deine Schulter weg von die Ohre!" Ich interpretierte scharf und richtig, dass damit das Absenken beider Schultern ohne Zuhilfenahme der Hände gemeint ist, stelle mir aber seitdem immer wieder gern vor, wie die rechte Hand die am linken Ohr (und umgekehrt) versehentlich festgeklebte Schulter abzupft und wieder an ihrer gegebenen Stelle einklinkt.
Nun, ich hatte alles in allem eine unterhaltsame erste Yogastunde, in dieser jedoch kein Ja-Findungserlebnis und hinterher stärkere Armschmerzen. Die Armschmerzen sollten mich so schnell nicht wieder verlassen, weshalb ich in den folgenden Wochen eine kleine Rundreise durch das Angebot vermeintlich armschonender Mädchensportarten meines Vereins antrat. Karate Kid wird ja auch älter und darf es mal etwas ruhiger angehen lassen, dachte ich etwas wehmütig. Und probierte aus:
Nach Yoga kam Pilates. Darunter hatte ich mir nun etwas vollkommen anderes vorgestellt als das, was ich, auf schweißtreibenden Body-Workout und dergleichen eingestellt, geboten bekam: Hauptsächlich verbrachte ich die Stunde mit dem Versuch zu verstehen, wann ich ein- und wann ausatmen sollte, ob bei Kopf/Bein runter oder hoch. Und ich versuchte meine drei zwischen den Beinen befindlichen Körperöffnungen fest zu verschließen, wie mir befohlen, wenn auch mit dem leisen Hinterkopfgedanken, dass ich diese Öffnungen ohnehin die meiste Zeit geschlossen zu tragen pflege. Außerdem schwitzte ich nicht einen Tropfen, und das war mir besonders unheimlich, pflege ich doch bei körperlicher Betätigung wie eine Art wildes Tier zu transpirieren (und sagen Sie jetzt bitte nciht, wilde Tiere transpirieren nicht).
Das Ja fand ich aber ganz unerwartet beim gar nicht spirituellen Kurs "Fitness Light". Das Ja liegt dort geradezu auf der Straße, will sagen auf dem Hallenboden. Und es wird ständig hinausgejauchzt von der Trainerin, die einfach mit einem Mordsspaß bei der Rumgehüpfe-Sache ist und dies ihren zahlreichen Schäfchen gern durch in verschiedenen Tonlagen tirilierte "Jas" vermittelt. Beim ersten Mal dachte ich, oh Gott, das halte ich nicht aus. Genau hier war ich umgeben von all diesen Mädchen, deren Sportarten ich doch nie machen wollte! Ich, Karate Kids kleiner Kumpel!
Aber was soll ich sagen, in der Not pickt auch das Kid die Brotkrumen vom Hallenboden auf. Immerhin war ich eine von zwei Teilnehmerinnen am Pilates-Kurs am 27.12. (scheren Sie sich nicht um das oben stehende Datum, lieber Leser, Neujahr ist schon vorbei, das ist die traurige Wahrheit), ich bin da also schon mit dieser gewissen Härte bei der Sache, die sonst fast nur echte Kampfsportler zeigen. Und ich habe standhaft abgelehnt, als man mich an jenem Tag freundlich zu "Fit über 50" einlud, nur weil ich wartend vor der anderen Halle stand. Und was Koordination und Gelenkigkeit angeht, kann ich den Hüpfi-Schickies schon zeigen, wo der Hammer hängt. Übrigens ist in jedem Kurs immer ein Quotenmann dabei, scheint eine goldene Regel zu sein. Und ich bin seit meiner Armkrankheit immer die Eifrige, die partout barfuß hüpft, weil sie keine schicken Turnschuhe hat und Kampfsportler nunmal barfuß trainieren, und die außerdem in ziemlich unvorteilhaften alten Schlabbersachen sportelt, weil sie ja schlecht im Karateanzug hingehen kann und nicht bereit ist, sich für ein temporär angelegtes Mädchengehüpfe extra schicke schwarz-rosa Hüpfsachen zu kaufen. Mit Yoga, habe ich beschlossen, warte ich lieber noch ein paar Jahre. Bis ich bereit bin für die Ja-Findung.

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