Sonntag, 6. Dezember 2009

Glaubens-Heureka mit Teufelsaustreibung

An diesem Wochenende wurde ich mehrfach geläutert und am Ende bekehrt. Aber ich muss anders anfangen.
Es ist ja wieder in Mode, sich zu einem Glauben zu bekennen. Christen, Juden und Muslime haben ihren einen Gott, Hindus ihren Brahma-Vishnu-Shiva, Buddhisten ihre innere Ruhe, Esoteriker ihren Esoteros und Atheisten immerhin ihren Nichtglauben. Und was mach ich, dachte ich bisher. Ich muss ohne diese Sicherheit im Rücken klarkommen und gerate bei der Gretchenfrage immer in Verlegenheit. Diese Probleme bin ich seit heute los. Aber der Weg dorthin war steinig und schmerzhaft.
Begonnen hat es damit, dass ich gestern Abend zum ersten Mal das Vergnügen hatte, an einer Queimada teilzunehmen. Das ist ein galizischer Brauch, dessen rituellen Teil sich mit Sicherheit irgendwelche Kelten ausgedacht haben, auch wenn die vielleicht nur der Legende nach in Galizien waren, in grauer Vorzeit. Der Brauch geht so: Zuerst trinkt man viel Alkohol und isst kalorienreiche Sachen wie Kastanien, belädt sich auf diese Weise also ordentlich mit Sünde, aber: Die Sünde ist hier heidnisch und taucht deshalb in Form von Dämonen auf. Diese Dämonen gilt es nun auszutreiben, was traditionell in der Nacht vor Allerheiligen geschieht, wenn man nicht der Halloween-Mode anhängt (gegen die ich mich bei der Gelegenheit gern zwar in Klammern, gleichwohl mit aller Deutlichkeit aussprechen möchte). Heutzutage ist man mit den Terminen ein wenig flexibler. Idealerweise um Mitternacht wird dann ein großer Tontopf mit einem Trank aus starkem galizischen Schnaps, Früchten und Kaffeebohnen auf den Tisch gestellt und – hier beginnt die eigentliche Queimada – angezündet. Und was ein richtiger Zaubertrank ist, braucht natürlich einen Zauberspruch, mit dem die mächtigen Elemente angerufen werden, kraft des einzunehmenden Gebräus die bösen Dämonen, Satyren und Verwünschungen zu vertreiben, die auf den Seelen der Anwesenden und deren Freunden in der Ferne lasten (vor allem bei denjenigen, die keiner der eingangs aufgeführten Glaubensrichtungen anhängen). Unter anderem geht es in dieser Beschwörung um "Fürze aus höllischen Ärschen". Mir, die als deutsche Muttersprachlerin die Ehre hatte, den aus dem magischen Galizischen ins Deutsche übersetzten Text vorzutragen, wollten aber partout keine höllischen Ärsche über die Lippen kommen – es wurden immer holländische Ärsche. Mir tat das sehr leid, ich bin ja nun ein Grenzkind und unseren holländischen Nachbarn eigentlich wohlgesonnen. Aber da sieht man mal, was jahrelange nächstenfeindliche Indoktrinierung in der niederrheinischen Heimat ausmachen kann – der Diskriminierungsdämon in mir wollte einfach ums Verrecken den Holländern eins auswischen. Gott sei Dank (eigentlich sage ich das jetzt gar nicht mehr, nach meiner Glaubensfindung, aber dazu später) habe ich ihn dann zusammen mit all den anderen Dämonen ausgetrieben mit dem brennenden Gebräu, das einem wirklich die Kehle verbrennt, dass es einen schüttelt. Wenn bei der Hitze noch irgendwas an Dämonen-Bazillen überlebt, will ich nicht mehr Fraunoelle heißen.
Von dem vielen Alkohol und der anstrengenden Dämonenaustreibung muss man sich dann allerdings einen ganzen Tag erholen, man sollte sich also am nächsten Tag nichts Großes vornehmen. Die so gereinigte Seele braucht Ruhe. Ich brauchte allerdings noch ein weiteres exorzistisches Erlebnis bis zur Erleuchtung, und das war fast noch schmerzhafter als das erste. Am heutigen Abend war ich nämlich endlich wieder bereit zur Nahrungsaufnahme und entschied mich aufgrund akuter Kochfaulheit für eine koreanische Suppe, die ich gleich beim netten Koreaner um die Ecke zu mir nahm. Ich musste ziemlich lange warten und las währenddessen einen Zeitschriftenartikel. Als die Speise endlich kam, löffelte ich beherzt zu – doch Satan, Luzifer und Beelzebub! Die unschludig klar dreinblickende dünne Gemüsesuppe war nicht nur so heiß, dass sie mir meinen gesamten Gaumen verbrannte, sondern auch so scharf, dass mir sofort Tränen in die Augen schossen, die gleich weiter auf meine Zeitschrift tropften. Allmächtiger, war ich versucht zu denken, wer immer du auch bist, du machst es mir nicht leicht, du stellst mich auf eine harte Probe. Ich erkannte jedoch auch zugleich, dass diese Probe nun noch von mir verlangt wurde, dass ich der Erkenntnis ganz nah war, dass es nur noch dieses eine Hindernis zu überwinden galt. Und so kämpfte ich mich weiter durch die Feuerqualen , die ich doch schon gestern Nacht erlitten hatte, wenn auch auf andere Art. Tapfer löffelte ich weiter, laut schniefend und stöhnend, so dass sich einige Restaurantgäste besorgt zu mir umdrehten, und wischte mir mit der bald durchnässten Serviette immer wieder Schweiß und Tränen aus dem Gesicht.
Ich schaffte es nicht ganz. Ein wenig musste ich übrig lassen von der Läutersuppe, ich konnte einfach nicht mehr. Doch offensichtlich hatte es gereicht: Denn als ich endlich wieder auf die Straße trat, Gesicht und Kehle immer noch von Feuer glühend, und mich der strömende Regen sogleich angenehm abkühlte, da merkte ich: Sapperlot, ich bin ganz leicht! Alle Flüche, Hexensprüche und Dämonenexkremente sowie sämtliche Fürze der Höllen dieser Welt waren plötzlich von meiner Seele genommen. Das Wasser aus der Luft löschte endlich den Brand in mir, und da kam mir der glasklare Gedanke: Mensch Meier, was bin ich, wenn nicht eine waschechte Heidin? Die durchlebten Rituale haben mir gezeigt, ja, ich fahre gut mit dem Glauben an Dämonen und Gegenzauber, das ist mein Ding, da weiß ich, was ich hab. Ich finde Gefallen an den vier Elementen der Natur und kann ganz gut damit leben, ein- bis zweimal im Jahr eine Feuerprobe durchlaufen zu müssen, wenn man sich danach so rein, wach und frisch fühlt. Ich spare dadurch Ayurveda und Kirchensteuer und muss mich endlich nicht mehr verstecken, wenn es um Glaubensfragen geht. Und ein Gefühl großer Zufriedenheit erfüllt mich seitdem. Ich glaube, mein nächster Feuertermin ist die Johannisnacht. Muss mich unbedingt informieren, was ich da genau machen muss.

Donnerstag, 17. September 2009

Enshanteled

Heute tue ich etwas, was ich sonst nie tue: Ich schreibe eine Hommage. Eine ganz kleine nur für einen kleinen Mann, der Großes vollbringt in seinem Element. Man muss auch mal eine Hommage schreiben im Bloggerleben.
Der kleine Mann, dem diese Homme-age gewidmet ist, gibt sich den schönen Namen Shantel. Und er kann innerhalb von Minuten hunderte von Menschen zum Tanzen bringen. Das ist seine Kunst. Letzten Samstag verzauberte er mich mit vielen hundert anderen im Grünspan.
Da kommt man hin, ist wohlweislich pünktlich zum angekündigten Veranstaltungsbeginn gekommen, hat trotzdem zwanzig Minuten in der Schlange gestanden, betritt schließlich den Raum – und er ist schon da. Und macht schon Musik. Shantel hat uns den Balkan in die Beine gebracht und die Bukovina in unsere Herzen, mit Partybeats gemischt an seinem Mischpult. Manchmal singt er auch selbst ein bisschen dazu. Aber erst mal springt er ein paarmal runter von der Bühne, auf der sein Pult aufgebaut ist wie ein Altar, und hört von hier und hört von da und fragt durchs Mikro, ob der Sound so in Ordnung sei. Ja sicher, man will ja sofort tanzen. Man kann gar nicht anders. Ich habe noch nie eine Tanzfläche sich so schnell füllen sehen. Man kommt ja aber auch gar nicht zum Pinkeln oder zum Rauchen, weil Shantels schöne Balkan-Klangpotpurris den Körper beständig zur Bewegung anstoßen, die Beine eintakten und das Gesicht zu einem Dauerlächeln formen. Wirklich, ich habe auch noch nie so viele glückliche Gesichter beim Tanzen gesehen. Nach 25 Minuten sind die ersten auf die Bühne gesprungen, oder der kleine Herr Shantel hat sie zu sich raufgeholt, er mag das offensichtlich, sich mitten unter seinen Untertanen zu bewegen. Und er tanzt ja auch, sehr elegant und minimalistisch, sein ganzer Körper in dem schönen hellen Anzug ein einziges Rhythmusgefühl. Ab und zu springt er aufs Mischpult, um sich die jubelnde Meute mal von oben anzugucken. Und die Menge bezeugt ihm ihre Liebe, in einem sechsstündigen Akt ohne Pause mit Höhepunkten am laufenden Band. Sogar oben auf der Empore tanzen sie, es gibt einfach keine Flucht vor dem Tanz, immer grabscht die Musik neckisch nach den Beinen. Und als die erste Staffel der Tänzer nach vier Stunden Dauerbewegung erschöpft das Etablissement verlässt, steht da draußen die nächste Ladung seit einer Stunde Schlange und ist glücklich, dass sie nun endlich reinkann, und sogar das Hinaus- und Hineingehen im engen Flur geschieht rhythmisch, nicht einmal der Türsteher kann stillstehen. "Disko Disko, Partizani!" Und die geheimnisvolle Königin aus Tasmanien bleiben als Mantren des Abends. Dankel, Shantel.

Freitag, 14. August 2009

Toi toi beim wackeren Kacken im Dixi

Vielleicht ist das jetzt wieder so wie mit der Haubitze (wer sich nicht erinnert, lese den Eintrag "Besoffene Vögel mit Hauben"): Ich habe eine Erkenntnis, und alle Welt weiß es schon. Dennoch, auch auf diese Gefahr hin:
Vor unserem Haus steht zur Zeit eine mobile Toilette (was für ein lebloser Euphemismus). Sie steht dort, damit die Bauarbeiter, die gerade unsere Fassade renovieren, nicht in aller Öffentlichkeit an einen der Bäume in der Straße oder, noch schlimmer, im Garten pinkeln müssen. Mein Fahrrad schließe ich immer an dem Metallbogen direkt vor dieser Toilette an, um den Bauarbeitern zu zeigen: Hey, alles in Ordnung, ich parke auch vor eurem Klo, bin da nicht so etepetete und es stört mich auch nicht, dass ihr da ab und zu Aa und Pipi reinmacht. Ich will ihnen ein gutes Gefühl geben hier vor unserem Haus. Bei einem meiner An- oder Abschließvorgänge fiel mir auf, dass auf dem Häuschen ein Schild klebt mit der Aufschrift: "Immer gut versorgt - mit Toi Toi und Dixi". So ähnlich. Wichtig ist das Ende: Ganz entgegen meiner bisherigen Überzeugung firmieren Toi Toi und Dixi, die Embleme mobiler Geschäfteverrichtung in Deutschland und anderswo, als eine Marke! Ich hatte Toi Toi immer für den minderwertigen kleinen Konkurrenten von Dixi gehalten. Denn seien wir mal ehrlich: Es geht doch niemand, will er zum Beispiel beim Festival in Wacken kacken, "mal eben aufs Toi Toi", und es gibt auch nicht "irgendwo hier bestimmt ein Toi Toi". Dixi ist doch wie Tempo oder Pampers (und hat mit letzteren ja auch einiges gemein), der Markenname hat sich hier über die Bezeichnung des Gegenstands erhoben. Dixi ist, sicher nicht nur in meinem bescheidenen Teil des kollektiven Weltverständnisses, längst zum Synonym für mobiles Kacken geworden. Und ich dachte immer, armer Toi Toi, der versucht verzweifelt, einen Fuß in die öffentliche Jauchegrube zu bekommen und es gelingt ihm kaum, immer bringen die Leute ihr Verdautes lieber zu Dixi, oder sagen das zumindest. Aber es ist gut, dass es dich gibt, Toi Toi, so pflegte ich weiter zu denken, auch wenn man dich nicht so auf dem Zettel hat - du bist der David im Kampf gegen den Gülle-Goliath. Und nun muss ich entsetzt feststellen (sowas weiß natürlich unsere oberschlaue Wikipedia): Es gibt ihn schon lange nicht mehr, den David. Goliath hat ihn sich schon 1997 einverleibt. Ihm aber dennoch seinen Namen gelassen. Und seither scheißt die ganze westliche Hemisphäre (denn DixiToiToi entjaucht auch in Europa und Übersee) - in einen einzigen gierigen Exkrementeschlund! Jeder Bauarbeiter, jeder Konzert- und Festivalbesucher, alle bedienen denselben Monopolisten der Ausscheidungen! Ja du liebe Güte, hat da nicht mal jemand das Kartellamt informieren wollen? War wohl allen ein zu schmutziges Thema, was? Da regen sich alle immer über Globalisierung auf, und niemanden kümmert es, dass unser Ausgeschiedenes längst atlantiküberspannend entsorgt wird. Und natürllich, liebe Globalisierungskritiker, Biohaushaltsführer und Obamafans, war es mal wieder der Ami, der den kleinen Aamann aus Wiesbaden geschluckt hat.
Wenn sich also noch irgendjemand in diesem scheinheiligen Land wehren will gegen die monopolistische Ausbeutung unserer Exkremente, dann kann es nur einen Weg geben: zurück zur Natur! Macht wieder mehr in die Büsche! Bei "nur Pipi" ist das auch für das olfaktorische Empfinden viel angenehmer, und für "Groß" gilt die goldene Regel, die ich im afrikanischen Sahel lernte: Das Papier hinterher anzünden, sonst fliegt's dem Nächsten ins Gesicht und sieht unschön aus. Das wird ab jetzt mein konsequenter Anti-Globalisierungs-Beitrag.

Montag, 8. Juni 2009

Besser spät als nie: Die Rucksackgeschichte

Manch einer mag sich schon gefragt haben, ob er denn noch irgendwann erscheint, der dritte Teil der Kuba-Trilogie. Oder ob Fraunoelle sich da nur einen werbewirksamen Scherz ausgedacht hatte, als sie immer wieder etwas von einem ominösen Rucksack einfließen ließ in ihre Kubaerzählungen, von dem sie aber nie wirklich zu erzählen gedachte. Aber nein, hochverehrtes Publikum: Hier ist sie, die Geschichte vom verschwundenen Rucksack und dem nicht vorhandenen Grips der Polizisten auf Kuba. Sí Comandante, wenn Sie das lesen, möchte ich hiermit voll und ganz zu dieser meiner Meinung stehen: Ihre Polizisten sind zu 95% völlig gripslos. Und den Ihrer Insel nicht kundigen deutschen Lesern sei nun erzählt, wie ich zu dieser Überlegung gelangte.
Es lag wohl daran, dass meine charmante Begleitung Almut und ich einfach schon zu viele Kilometer gefahren waren bei tropischen Temperaturen, zu wenig geschlafen hatten und noch zu viele Kilometer hinter uns bringen mussten. Es war der letzte Urlaubstag, Havanna wollte erreicht werden, um am nächsten Tag dann ganz von uns verlassen zu werden. An einem schäbigen Rastplatz, Kilometer 172 vor Havanna, hielten wir an, um unsere Blasen zu leeren und sie von oben neu zu füllen. Und irgendwie blieb er dort stehen, Almuts kleiner Rucksack, ihr Handgepäck, unter dem Tisch. Keine von uns dachte in jenem Moment an ihn, wir stiegen wieder ins Auto, Almut schlief sofort ein und wir beide erwachten erst wieder so recht, als unser Hinterreifen platzte, mitten im schon erreichten Stadtverkehr der Hauptstadt, in der letzten abendlichen Hitze. Und als wir uns dann endlich all den Schweiß des Reifenwechsels und der Fahrt und den Staub der Straße abwaschen wollten, bemerkten wir sein Fehlen, das des Rucksacks. Und nun kommt der entscheidende Satz, den müssen Sie sich merken: Der Pass war nicht drin gewesen im Rucksack. Dafür aber andere schöne Dinge, wie Adressen, Musik, Telefon und so weiter, und vor allem: der Vertrag für unseren Mietwagen, bei dessen Verlust wir 100 Euro hätten bezahlen müssen.
Und wir beide wussten plötzlich, wo er geblieben war, nämlich an dem Rastplatz unter dem Tisch, und wahrscheinlich wussten wir auch beide, dass er schon längst nicht mehr dort stehen, sondern in einen dankbaren kubanischen Haushalt oder Schwarzmarktzweig übergegangen sein würde. Dennoch sagte Almut, und ich pflichtete ihr sofort bei: "Ich muss dahin zurück."
Und so fuhren wir denn, dreckig, hungrig, erschöpft, besorgt, in die Dämmerung hinein, 172 Kilometer auf schlechter Autopista nacional zurück. Netterweise bei uns war Vladímir, unser Herbergsvater aus Havanna. Natürlich war der Rucksack nicht mehr da, und wir fanden ihn auch nicht bei ausgiebiger Suche im Dunkeln in dunklen Ecken, Mülleimern und Kloschüsseln. Aber eine Art Wachmann riet uns, im nahen Polizeirevier den Diebstahl zur Anzeige gegen Unbekannt zu bringen, damit wir darüber eine Bescheinigung bekämen und nicht die Strafe für den Verlust des Mietwagenvertrags zahlen müssten. Netter Rat, den wir sogleich befolgten. Aber nein, sogleich, so gleich, ging das überhaupt nicht. Die Befolgung jenes nett gemeinten Rates dauerte zweieinhalb Stunden. Und zurück in Havanna waren wir dann um zwei Uhr morgens. Das war unser letzter Abend, ohne Essen.
Als wir nach einigem Durchfragen endlich das Polizeirevier in dem gottverlassenen nächtlichen Provinzkaff gefunden hatten, das dem Rastplatz am nächsten lag, versammelte sich, nachdem zunächst gar niemand da zu sein schien, erst einmal die gesamte Mannschaft, um uns etwa drei Minuten lang zu begaffen. Mein sogleich unternommener Versuch, dem Oberwachtmeister unser Problem zu schildern, wurde von dessen Seite komplett ignoriert. Er sah mich zwar an, während ich redete, wandte sich dann aber an den uns begleitenden Mann und fragte, was geschehen sei. Vladímir antwortete netterweise, dass alles so sei, wie ich es gerade erklärt hätte, und dass wir deshalb hier seien, um eine Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten, dass er selbst aber mehr ein zufälliger Begleiter sei und mit der Geschichte eigentlich gar nichts zu tun habe. Und eigentlich bräuchten wir auch nur das Formular über die Anzeige zur Vorlage beim Autovermieter.
Die Angehörigen der Polizeistationsbelegung, immer noch vollzählig anwesend, wechselten daraufhin vielsagende Blicke und nichtssagende Worte, bedeuteten uns, Platz zu nehmen, verließen den Raum und ließen uns erst einmal etwa 20 Minuten warten. Schließlich durften wir uns nacheinander zur Befragung in einen schäbigen Raum mit einem Polizisten im Unterhemd und einer rostigen Schreibmaschine begeben: Ich, die ich nicht die Bestohlene war, Almut, für die ich alle Fragen noch einmal dolmetschte, und Vladímir, der mit der ganzen Sache gar nichts zu tun hatte, sondern nur aus Nettigkeit mitgekommen war. Und der Polizist im Unterhemd mit der rostigen Schreibmaschine stellte jedem von uns exakt die gleichen Fragen, in exakt dem gleichen Tonfall, und er bekam immer exakt die gleichen Antworten darauf. Unter seinen Fragen waren: "Sie stellten also den Rucksack unter den Tisch?", "Was war in dem Rucksack?" und "War in dem Rucksack Ihr Pass?" Letzteres hatte ich übrigens schon einmal vor der offiziellen Befragung verneint, ich wiederhole auch für den an unserem Schicksal interessierten Leser gern noch einmal: Es befand sich kein Pass in jenem Rucksack, nein. Zwischendurch musste die Befragung unterbrochen werden und alle mussten draußen warten, bis der Schlüssel zum einzigen Raum mit Klimaanlage gefunden war. Spätestens als ich die dritte Frage für Almut übersetzte und bemerkte, dass bis hierhin die Befragung identisch mit meiner verlief, hielt ich das Ganze für eine Art Komödie. Der hemdlose Polizist setzte auch bei jeder sich wiederholenden Frage genau die gleiche Mimik auf, vielleicht hatte er keine andere. Es sollte aber gar nicht lustig sein, und der Schweißgeruch unter meinen Achseln und das Loch in meinem Magen waren auch langsam nicht mehr lustig.
Nach Ende der Befragung mussten wir noch einmal etwa 30 Minuten warten, bis wir dann endlich ein auf der rostigen Schreibmaschine mit vielen Tippfehlern verfasstes Zeugnis unserer Mühen in Händen hielten. Immerhin: Es sollte uns am nächsten Tag tatsächlich 100 Euro ersparen. Vladímirs Mutter, die mit ihm die Pension in Havanna führte, hatte schon etwa sechsmal besorgt angerufen (vielleicht befürchtete sie ein klein wenig, wir hätten ihren Sohn für immer entführt und würden ihn nun als tropischen Lustknaben missbrauchen) und war inzwischen wohl vorm Fernseher eingeschlafen. Zum allgemeinen Frustausgleich besorgten wir uns noch ein paar Wegbier, und davon zischte ich mir dann auch zum ersten Mal in meiner Fahrerlaufbahn gleich zwei hinter dem Steuer, und als wir am Kontrollposten vorbeifuhren, klemmte ich die Bierdose einfach zwischen die Knie, war eh dunkel. Und sehen konnte ich auch nicht viel, meine viel zu lange getragenen Kontaktlinsen hatten begonnen, den Saft aus meinen Augen zu saugen, Gott – was machte es schon. Wir füllten den lieben Vladímir ordentlich mit Bier ab, vergewaltigten ihn nicht, sondern gaben ihn wohlbehalten wieder seiner in Sorge eingeschlummerten Mutter zurück und waren einfach sehr froh, dass wir nach all der Urlaubsjause und -sause ganz ohne Sport so viele Kalorien verbrannt und auch einiges von dem materiellen Ballast, den der westliche Urlauber zuhauf mit sich herumschleppt, für immer losgeworden waren. Aber der Pass war nicht drin gewesen im Rucksack, und deshalb konnten wir beide auch am folgenden Tag wieder nach Hause zurückfliegen, und dort bin ich jetzt auch schon wieder seit geraumer Zeit. So lange kann es manchmal dauern, bis gewisse Geschichten erzählt sind. Nun können wir uns endlich wieder dem Hiesigen widmen.

Sonntag, 24. Mai 2009

Fortsetzung Kuba II, nun also: Das Gesetz

Leider stehen hier die neueren Einträge immer über den älteren, was den Anschluss nun etwas unschön macht. Aber was soll's, ich zähle auf die Flexibilität meines geschätzten Publikums: Lesen Sie sich doch noch einmal den ersten Absatz des letzten Eintrags durch, oder vielleicht haben Sie ihn ja auch noch im Kopf. Es geht darin um meine Erfahrungen mit Polizisten (vor der Kubareise). Davon erzählte ich auch Almut, meiner charmanten Begleiterin. Wir waren inzwischen mit unserem treuen kleinen Mietwagen, der uns brav über viele Geröllpisten trug, auf der Rückreise nach Havanna.
In einem spöttischen Schnippchen des Schicksals hielt uns, kaum hatte ich diese Besonderheit meiner Kfz-Karriere der am Steuer sitzenden Almut zum besten gegeben, ein Polizist an. Er gab vor, unsere Papiere sehen zu wollen, war aber offensichtlich nur neugierig, denn dass die Fahrerin gar keine Papiere dabei hatte, störte ihn nicht im geringsten, und als ich anfing, nach meinen zu kramen, winkte er dankend ab. "Schon gut, schönen Tag noch!"
Das war nun wirklich die merkwürdigste Polizeikontrolle gewesen, die ich je erlebt hatte, aber es war ja auch meine allererste. Später erzählte uns allerdings einer der vielen Anhalter, die wir während der langen Fahrten immer wieder mitnahmen, dass reguläre Kontrollen von Touristen der kubanischen Polizei gar nicht erlaubt sind. Ja, das hatte ich schon öfter gehört, erinnerte ich mich und merkte es mir gut fürs nächste Mal. Das ließ nicht lange auf sich warten: Diesmal saß ich am Steuer, und kurz hinter einem Bahnübergang trillerpfiff es, und energisch wurden wir an den Rand gewunken. Ich hielt dann doch an, obwohl ich mir anderes vorgenommen hatte, war aber fest entschlossen, mich in keiner Weise von einem dahergelaufenen Uniformträger verschaukeln zu lassen. So schaute ich dann möglichst reserviert, als der junge Polizist nach Führerschein und Fahrzeugpapieren fragte, und hielt ihm recht unfreundlich vor: "Ich dachte, Sie kontrollieren keine Touristen." Erstaunt und vielleicht etwas verschüchtert blickte er mich an - eine solche Aufmüpfigkeit war ihm wohl noch nicht begegnet in seiner noch jungen Karriere. Pflichtbewusst und mechanisch wiederholte er: "Ich brauche Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere." Ich händigte sie ihm aus. In diesem Moment kam noch ein älterer Polizist dazu, offenbar ein Vorgesetzter, der noch an seinem Mittagessen kaute und ziemlich aufgebracht wirkte. Noch so ein Vogel, sagte ich halblaut zu Almut, als mir langsam dämmerte, dass ich wohl tatsächlich gegen eine Verkehrsregel verstoßen hatte. Der ältere Polizist nämlich mischte sich nun ärgerlich ein: "So, Sie sprechen also unsere Sprache?! Da vorne am Bahnübergang steht ein riesengroßes "Halt"- Schild, und Sie fahren einfach drüber, ohne mit der Wimper zu zucken? Wollen Sie, dass der Zug Sie überfährt?!" Oha. Da hagelte es aber plötzlich Erkenntnisse: Besagter Zug war nämlich zu einer Art Running Gag zwischen Almut und mir geworden, weil wir ständig seine Trassen überfuhren und überschritten, ihn aber nie - auch bis zum Ende der Reise nicht - zu Gesicht bekamen. Bahnschranken gibt es nicht auf Kuba, wäre auch bei den Ewigkeitsintervallen zwischen zwei Zugdurchfahrten am selben Ort pure Verschwendung. Aber: Jedes Fahrzeug muss an jedem Bahnübergang anhalten, der Fahrer sich vergewissern, dass links und rechts kein Zug anrollt, und erst dann darf er weiterfahren. So bescheuert das in der teilweise menschenleeren kubanischen Prärie auch aussieht. Und: Ich hatte gegen diese Regel verstoßen (wenn auch nicht mit Absicht, ich hatte es schlicht nicht bemerkt)! Und mich kein bisschen einsichtig gezeigt, nein, stattdessen konnte man mir auch noch Beamtenbeleidigung vorwerfen! Nun wurde mir doch ein bisschen mulmig. Nie hatte ich Ärger mit Polizisten gehabt, und nun manövrierte ich uns beide gerade in den deftigsten Ärger hinein. Sofort schaltete ich auf Einsicht um: "Oh, äh, ja, das tut mir leid, hab ich gar nicht gemerkt, oh Gott, tut mir leid!" - "Mach das noch einmal, und du zahlst die dreifache Strafe!", belehrte mich der ältere Polizist streng, nun doch ein wenig seine Amtsautorität auskostend, und - ließ uns ziehen. Puh. Erleichtert hielt ich von da an mehr als vorschriftsmäßig an jedem Bahnübergang, schaute nach rechts und links und fuhr dann gaaanz langsam über die Schienen - offenbar aber nicht langsam genug, denn etwa zwanzig Minuten nach zuletzt geschildertem Vorfall wurden wir wieder angehalten, diesmal von einem Mittelalten mit Schnauzbart, der ziemlich grimmig dreinguckte. Er fragte sofort nach meinem Pass - verdächtig, aber ich war verunsichert. "Habe ich irgendwas falsch gemacht?", fragte ich zögerlich, während er in meinen Personalien rumschnüffelte. "Falsch?", sprach es mit versteinerter Miene, "allerdings." Keine Erklärung. Meine Ahnung sagte mir, dass ich mir diesmal nichts hatte zuschulden kommen lassen, aber nach der letzten Episode hatte mich der Mut vorerst verlassen. Er ließ mich zappeln, sprach mich beim Vornamen an, den er schlauerweise in meinem Pass gelesen hatte, genoss sichtlich meine Unsicherheit, die sich allerdings bald mit Ärger mischte, und sagte auf meine Nachfrage, nichts sei in Ordnung. Und dann, plötzlich, gab er mir meinen Pass zurück, schüttelte uns beiden nacheinander die Hand und sagte mit süffisantem Lächeln: "Alles Gute zum Muttertag, die Damen, und weiterhin gute Fahrt!" Also bitte, Schicksal, dachte ich bei mir. Ist das nicht ein etwas theatralischer Wink, um mich daran zu erinnern, dass ich meine Mutter noch nicht angerufen habe heute? Telefonieren ist teuer auf Kuba!
Und das war ja noch nicht unser letztes Erlebnis mit den Uniformierten dort in der tropischen Hitze. Es kam ja noch die Sache mit dem Rucksack, aber bevor ich die erzähle, muss ich leider einen weiteren Schnitt und damit aus dem Zwei- einen Dreiteiler machen. Sie wissen doch: Vorfreude ist die schönste ihrer Art!

Geschichten aus Kuba. Zweiter Teil: Begegnungen mit Gesetz und Verbrechen

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die ein grundsätzliches Problem menschlicher Art mit Polizisten haben. Sie sind für mich, ebenso wie, sagen wir, Lehrer, einfach Teil unserer Gesellschaft und ich habe rein gar nichts gegen sie, was ich nicht auch gegen jeden anderen Menschen eines beliebigen Berufsstandes haben könnte. Vielleicht komme ich auch deshalb nie in Polizeikontrollen. Ich fahre nun seit zwölf Jahren Auto, nicht immer absolut StVO-konform, aber ich bin noch nie von der Polizei angehalten worden. Soviel zu meiner Unvoreingenommenheit bezüglich des jetzt folgenden Themas.
Bevor ich aber unsere kubanischen Erlebnisse mit den dortigen Gesetzeshütern referiere, muss ich Ihre Geduld ein klein wenig strapazieren und das Thema vom anderen Ende der Gesellschaft her aufrollen: Zuerst nämlich trafen wir auf Kuba die Gesetzesbrecher.
In einer langen und beschwerlichen Wanderung hatten wir von Santiago de Cuba aus eine ehemalige Befestigungsanlage aufgesucht, el Morro. Der Weg war sehr viel weiter gewesen als angenommen und die Temperaturen konnten zentraleuropäischen Organismen ganz schön zu Kopf steigen, kurz: die Umstände luden nicht gerade dazu ein, auch den Rückweg zu Fuß zu bestreiten. Nun waren wir, endlich an einem kleinen Strand mit dem verheißungsvollen Namen La Estrella angekommen, dort von einer ganzen Horde kubanischer Halbstarker, von denen einige wirklich nicht vollkommen koscher wirkten, derart bedrängt worden, dass uns die Lust am Strandaufenthalt vorerst vergangen war; zudem war es bereits früher Abend, der Weg nach Santiago weit und die Art unseres Zurückkommens noch vollkommen ungeklärt. Der Bus, auf den zu warten wir uns hoffnungsvoll am Straßenrand postiert hatten, hatte seine nächste Durchfahrt offenbar für den St. Nimmerleinstag vorgesehen. Doch, wie es so ist auf Kuba: Ein Transportangebot für die beiden netten Touristinnen mit dem vermeintlich prall klingenden Geldbeutel ließ nicht lange auf sich warten. Aus einer nicht sonderlich einladenden Gaststätte am Strandesrand, deren Verköstigung wir zuvor dankend abgelehnt hatten, kam ein offensichtlich stark angetrunkener junger Herr auf uns zu und fragte, ob er uns nicht in die Stadt fahren solle mit seinem Wagen, der dort stand, er verlange lediglich zehn Dollar. "Prinzipiell gern, für die Hälfte des Preises und wenn du nicht der Fahrer bist", entgegnete ich mit träge erwachender Handelslust und einigem Argwohn. Letzterer war durchaus berechtigt, denn, so wurde uns bald klar, wir hatten es hier erstmals mit einem echten kubanischen jinetero, einem Unterhändler oder Schlepper, zu tun. Er grinste verächtlich und zog ab, um das Angebot seinem Patron zu unterbreiten. Zurück kam er mit einer Gegenofferte von acht Dollar. Aber so leicht gaben wir nicht nach; "sechs Dollar", gab ich eiskalt zurück, "und wir machen uns jetzt schon mal zu Fuß auf den Weg." Diesmal kam der Läufer, nicht ohne sich vorher kraft alkoholbedingter Gehschwierigkeiten fast ein Bein in einem Erdloch gebrochen zu haben, eilig zurück und brachte - Sakrament! - seinen Patron, seinen Herrn und Verwalter mit. Und augenblicklich fühlte ich mich ganz wie in einem Verbrecherfilm: Der Kerl war der Prototyp des Zuhälters, der andere für sich arbeiten lässt, auf diese Weise sein Geld vermehrt und dabei selbst nichts anderes tut als von Tag zu Tag fetter zu werden und seinen Lackaffenbart zu trimmen. An jedem Finger steckte ein goldener Ring, auch der Stiernacken war goldbehangen, die aus den Shorts ragenden Beine konnten den beleibten Körper kaum tragen, aus dem feisten Gesicht starrten zwei listige, emotionslose Augen. Dunnerlittchen, dachte ich, dir und deinen Schergen möchte ich nicht des Nachts allein und wehrlos begegnen. Aber ich nahm mich zusammen und dachte, ruhig, nur Herr der Lage bleiben, nur nicht einschüchtern lassen. Der Zuhälter musterte uns, nickte herablassend von meiner Begleiterin Almut und mir zum Auto und sagte nur: "Tennbagh." Ob seiner Unverfrorenheit bei fehlender Bildung und der Geringschätzigkeit, mit der er uns aus seinen Schlitzaugen anstierte, gefror nun mein Gesicht zum Pokerface und ich dachte, du mieser Zuhälterfettwanst, dir werd ich's zeigen. Lern du erst mal anständig ten bucks sagen, bevor du zwei Frauen, die eindeutig schlauer sind als du, unverschämte zehn CUC für die Strecke nach Santiago abknöpfen willst, und glaub ja nicht, dass ich Angst vor deinem gemeinen Babyface habe. All diese Gedanken legte ich in den Blick, mit dem ich ihm unverwandt in die Augen sah, während ich in meinem feinsten Iberospanisch sagte: "Wir waren bei sechs. Sechs und keinen Centavo mehr, sonst gehen wir halt zu Fuß." Der Fettwanst starrte zurück, wollte mich mit seinem Blick durchbohren, seine Augen sagten: "Du bist für mich nicht mehr als zwei Titten", und fragte: "Spanierinnen, was?" - "So was Ähnliches", entgegnete ich, ohne den Blick zu senken. Nach einigen Sekunden des Schweigens, das nur vom leicht durch den heißen Staub säuselnden Wind untermalt wurde, hatten wir gewonnen. Ohne den Blick von mir zu wenden - ich war wirklich noch nie mit so viel Gemeinheit und Missbilligung angeschaut worden - bedeutete der Patron seinem Jinetero und einem weiteren Angestellten, der sich als Fahrer entpuppte, mit einer Kopfbewegung, uns für sechs CUC nach Santiago zu fahren. Meine Knie zitterten ein wenig nach dem Blickgefecht, auch vor Wut, dass wir uns auf solch zwielichtige Gestalten einlassen mussten. Und ganz gebannt schien die Gefahr noch nicht. Ohne es auszusprechen, wussten Almut und ich beide, dass wir den gleichen Gedanken hatten: Hoffentlich fahren die uns jetzt nicht sonstwo hin, vergewaltigen uns und rauben uns aus. Also: Pokerface bewahren, auf alles gefasst sein!
Es ging gut. Außer ohrenbetäubend lauter Musik und dem unverhohlenen Angebot seitens des Betrunkenen, doch gleich noch ein kleines Nümmerchen zu schieben ("Dein Körper ist nämlich ganz gut"), wurde uns kein Leid zugefügt. Der Fahrer war sogar nüchtern. Endlich wieder im sicheren Gewimmel von Santiagos Plaza Dolores, atmeten wir beide tief auf und machten unserer Empörung über die Arten von Männern und Behandlung, denen wir soeben entkommen waren, lauthals Luft. Es sollte gottlob unsere einzige Erfahrung mit derart zwielichtigem Volk während der Reise bleiben. Es gibt jedoch auf Kuba, und das bestätigt einem jeder Kubaner, eine Spezies, die fast ebenso unangenehm sein kann wie die trüben Gestalten am Rand des Gesetzes: Die sogenannten Hüter des Gesetzes. Weil der Eintrag droht, Überlänge zu bekommen, beschneide ich ihn hier und mache einen hübschen Zweiteiler daraus. Gleich geht's weiter!

Freitag, 15. Mai 2009

Geschichten aus Kuba. Erster Teil: Das Prinzip Mi Amor oder wie man sich (k)einen Kubaner angelt

Ja, verehrte Leser, damas y caballeros, ich will Ihnen nicht vorenthalten, wie das abzusehende Ende des letzten Eintrags aussah: Natürlich bin ich eingeschlafen, und erwachte bei strahlendem Sonnenschein genau zu dem Zeitpunkt, als ich mit meiner charmanten Reisebegleitung am Checkin-Schalter von Airfrance verabredet war. Und mit einem Kopf, dessen Inhalt nichts Gutes verhieß. Ich habe es dann geschafft, irgendwie, es war verdammt knapp, und ich will nie mehr Alkohol vor einem längeren Flug trinken.
Nun also Kuba, ay! Cuba. Wie sollte ich je all die Zeit aufbringen, um alle Geschichten zu erzählen, die es zu erzählen gäbe von dieser wunderbaren, wundersamen und grausamen Insel. Ich fange einfach in der Mitte an, womit dann vielleicht auch schon das Ende erreicht ist, aber der Alltag tritt sich schon die Füße an der Schwelle ab, und es bleibt wenig Zeit, bis er wieder im Hause ist und alles in seinen Bann zieht. Vorher also noch geschwind:


Das Prinzip Mi Amor

Ich kann jeder heiratswilligen Frau, die dem Speeddating sowie einer gewissen Beschränkung auf das Oberflächliche in Sachen intersexueller Annäherung im Grundsatz nicht abgeneigt und nicht gerade völlig insolvent ist, nur Folgendes raten: Fahren Sie nach Kuba. Ziehen Sie sich etwas Nettes an, ein Kleid ist ideal, muss aber nicht sein. Sie müssen weder blendend aussehen noch besonders gut Spanisch sprechen, das ist nicht so wichtig. Gehen Sie einfach auf die Straße und laufen Sie dort wiegenden Schrittes, nicht zu schnell, auf und ab. Sollte Ihnen die sich nach wenigen Minuten bietende Auswahl pfeifender, schnalzender und kontaktwilliger Männer dort nicht gefallen, probieren Sie es einfach ein paar Straßen weiter oder auch einmal in der nächsten Stadt. Sagt Ihnen ein Exemplar zu, können Sie schon nach etwa einer halben Stunde zur Planung der Überführungsformalitäten nach Europa übergehen. Sie müssen lediglich das Geld für sein Flugticket zuschießen. Wenn Sie aber mal eine Pause von den Strapazen des karibischen Heiratsmarktes brauchen, versuchen Sie, möglichst schnell und unbemerkt Ihre Unterkunft zu erreichen und bleiben Sie dort, bis Sie sich erholt haben - setzen Sie sich auf keinen Fall in ein Café, eine Bar oder gar auf eine Parkbank!
Das Gute an all dem ist: Man muss auf Kuba niemals allein sein. Man findet immer Gesellschaft, und es geht dabei nicht immer nur um das Eine. Und die allermeisten Kubaner sind in fast jeder Situation zu einem Schwatz aufgelegt. Dabei zeigen sie ihrem Gesprächspartner (m/w) gern, wie lieb und teuer er/sie ihnen ist, indem sie ihn/sie mit Kosenamen bedenken, die sich sämtlich etwa mit "mein Schatz, mein Liebling" übersetzen ließen. Dabei spielt die Vertrautheit oder die Dauer der Bekanntschaft der Kommunizierenden keine Rolle. Man muss einander auf Kuba nicht kennen, um des anderen Schatz zu sein. Man muss dem anderen auch nichts Nettes sagen wollen, um ihn dabei Schatz zu nennen.
Ich kam irgendwann an den Punkt, an dem ich beschloss, es einfach genauso zu machen. Eigentlich bin ich ein Gegner partnerschaftlicher Kosenamen, aber schließlich ging es für mich hier ja gar nicht um Partnerschaften und außerdem passe ich mich gern meinem Umfeld an. Als wir also eines schönen Abends im idyllischen Remedios auf der Terrasse einer Bar saßen, dauerte es nicht lange, bis wir von einer kleinen Gruppe ins Gespräch gezogen wurden. Diesmal waren sogar auch Frauen dabei, zwei Paare, um genau zu sein. Der Mann des einen Paares machte gemeinsam mit einem weiteren Singlemann (dessen Alkoholpegel etwa dem von 15 Dosen Bier entsprach) alle möglichen absurden Vorschläge, wie man den nächsten Tag gemeinsam mit allen Anwesenden gestalten könnte. Das wollten wir, meine Begleitung Almut und ich, aber gar nicht. Wir wollten den nächsten Tag absolut nur zu zweit gestalten. Da unsere aufdringlichen Gesprächspartner aber nicht locker ließen, beschloss ich irgendwann, es nun einmal auf die vermeintlich kubanischere Art zu versuchen und sagte in etwas barscherem Ton zu dem Paarmann: "Nein, mi amor, ihr werdet morgen nirgendwo mit uns hinfahren. Wir fahren allein." Huch, da hatte ich aber was falsch gemacht! In plötzlich aufgeregtem Gezeter fuhr man mich an - nicht etwa ob des Inhalts meiner Worte, nein, es ging um den einen Ausdruck: "He, das darfst du nicht sagen, er ist nicht dein Schatz, er ist ihr Schatz!" Mit Verweis auf die blondgefärbte Begleiterin des Paarmannes. Ich murmelte irgendeine Entschuldigung, dachte aber, meine Güte, ich werde hier ständig verbal gekost, was aus meiner Sicht absolut keine Bedeutung haben kann, darf aber nicht mi amor zu einem sagen, dessen echte amor dabei sitzt. Okay, versuche ich zu verstehen.
Ich lernte die Lektion dann noch bei anderer Gelegenheit zu Ende bzw. erfasste ihren vollen Inhalt: Schon einige Male war mir aufgefallen, dass Kubaner Sätze, die sich an einen - gern unbekannten - Gesprächspartner richten, am liebsten mit "mi vida" beenden, "mein Leben". Etwa: "Ja richtig, ein Kilo kostet 5 Pesos, mi vida." Ich hatte das als besagtes, für meine zentraleuropäischen Begriffe übertriebenes verbales Gekose abgetan. Die wahre Bedeutung dieses Anhängsels erschloss sich mir aber erst auf einer nächtlichen Gewaltfahrt, deren Geschichte ein andermal erzählt werden soll, während der unser kubanischer Begleiter (ein Freund) sich aus dem Fenster lehnte und eine ihm durchaus nicht bekannte Passantin fragte: "Ist das die Straße zur Polizeistation, mi vida?" Pling! machte es da in meinem Kopf: Nicht Liebe, sondern Leben ist also die übliche Koseform für jedermann auf Kuba, und mehr als das, es ist die übliche Anrede. Wo wir Deutschen uns mit einem verkorkst-gehaltlosen Tschuldigung zu behelfen versuchen und der Franzose immerhin noch ein elegantes Monsieur/Madame zur Hand hat, fahren die Kubaner gleich alles auf: Ich kenne dich nicht, aber du bist mein Leben, und wenn ich dich schon nicht gleich lieben kann, so bedeutest du mir doch so viel wie der Pulsschlag meines Herzens, auch wenn ich dich nur nach dem Weg frage.
Um also noch einmal auf die Strategien der Partnersuche auf Kuba zurückzukommen: Wenn Ihnen einer besonders gut gefällt und keine zu ihm gehörige Frau in Sicht ist, nennen Sie ihn meine Liebe. Wenn einer Ihnen nicht so gut gefällt und Sie ihn freundlich oder auch nicht so freundlich zurückweisen wollen, nennen Sie ihn mein Leben. Und halten Sie sich nicht mit eventuellen ethischen Fragen an Ihr Empfinden auf, was Ihnen denn nun wichtiger ist: Leben oder Liebe.

Samstag, 25. April 2009

Fraunoelle fährt beschwipst in Urlaub

Schalalaaa! Ich verstehe Fußball! Ich verstehe Fußball!
Hochverehrtes Publikum. Ich werde mich für eine Weile verabschieden, weil ich in die Kraibik fahre zu Fidel. Sie werden meine Abwesenheit aber gar nicht bemerken, weil ich ja schon seit geraumer Zeit auch ohne Fidel genauso selten schreibe wie ab morgen mit Fidel. Es wird Ihnen also nicht weiter auffallen. Ein Glück. Ich fahre nämlich obendrein betrunken zu Fidel. Ich hoffe, er merkt es nicht so. Als Revolutionär ist man doch Asket. Aber ich ließ mich gerade auf einer sehr erfreulichen Party hinreißen zu vermehrtem Alkoholkonsum und hab hinterher noch ein ganzes Cookiekamel (ein schönes Geschenk aus der niederrheinischen Heimat) gegessen, und jetzt darf ich nicht mehr ins Bett gehen, denn dann krieg ich nicht die Karawane, die zu Fidel zieht. Ich muss also aufbleiben, geschätztes Publikum. Und mit wem könnte das schöner sein als mit Dir, Leser? Geschätztes Publikum, ich vertippe mich wahnsinnig oft. Aber ich habe noch die Klarheit, meine Fehler zu korridieren. Oder Gieren. Und weil's so schön passt, empfehle ich nebenbei zu lesen: Daniel Glattauer, Gut gegen Nordwind. Weil's so schön ist. Aber ich hab es leider schon ausgelesen und den Folgeband auch, der war aber nicht so gut.
Mann, immer noch anderthalb Stunden bis der Wecker klingelt. Ach so, den hab ich noch gar nicht gestellt. Vielleicht mach ich das noch. Damit ich nicht einschlafe.
Hochgeschätzter Leser, ich werde allein von Glück reden können, wenn ich in vier Stunden im Flieger sitze. Naja, fünf. Aber dann hebt er auch schon ab. Bis dahin lege ich mich noch ein wenig aufs Sofa, öffne das Fenster und lausche dem Morgengesang der Vögel. Ab morgen Abend sprechen die nämlich Spanisch und tanzen Salsa und Son in den Bäumen. Wiederseeeehn!

Mittwoch, 15. April 2009

Verhindert Gott Sport?

Etwas Derartiges muss ich leider seit heute annehmen. Denn wissen kann man's ja nicht, wie man eben nichts wissen kann in der Gottessache. Seit heute, wenn nicht schon seit letzter Woche, verfestigt sich allerdings mein Verdacht, Gott könnte es in Sachen Sport mit Churchill halten.
Letzte Woche musste ich immer lange arbeiten und konnte dadurch nie meinen geliebten Kampfsport trainieren. Umso mehr freute ich mich darauf, es diese Woche endlich wieder zu tun. Ostermontag hat Gott einen Feiertag gemacht, da ist Trainieren tabu. Gut. Dann also am heutigen Mittwoch. Alles lief fast nach Plan, ich war nur wenige Minuten zu spät dran und fuhr flugs im frischen Frühsommerwind vom Büro in Richtung Jungfernstieg. Da blies mir jedoch eben jener frische Wind - gelenkt von Gottes Hand? - mit einer Bö etwas ins Auge und auf die Kontaktlinse. Bei harten Linsen, wie ich sie trage, schmerzt das ziemlich, man muss sie dann sofort kurz rausnehmen und ablecken. Ich steige also geschwind vom Fahrrad ab, hole die Linse heraus, lecke sie ab und habe sie gerade wieder zum Einsetzen auf dem Finger, als eine weitere tückische Bö sie mir einfach vom Finger auf die Straße weht. Und zwar geschah dies, meine Damen und Herren, direkt und exakt vor der Tür der Scientology Kirche Hamburg.
Da stand ich nun mit nur einer Kontaktlinse zum Sehen, kniete nieder und begann, mit den Händen den Bürgersteig abzusuchen. Ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen bei einem durchsichtigen Gegenstand in halber Erbsengröße, den der gemeine Wind schon sonstwohin geweht haben konnte. Ganz nebenbei stellte ich dabei fest, dass der Hamburger Bürger in den meisten Fällen sehr freundlich und hilfsbereit ist: Viele Passanten hielten an und fragten besorgt, ob ich etwas "Bestimmtes" suche, knieten sich zuweilen sogar kurz mit mir nieder, um mir zu helfen. Und ich glaube, sie fragten alle nach diesem "bestimmten" Etwas, weil sie vermuteten, ich könnte soeben bei Scientology ausgetreten (kniete ich doch buchstäblich vor deren Schwelle) und nun endlich auf der Suche nach dem rechten Glauben sein.
Der Herr des rechten Glaubens jedoch hatte sich an diesem Tag offenbar nicht nur vorgenommen, meine sportliche Betätigung zu verhindern, sondern für die Ausführung dieses Plans ausgerechnet Tom Cruise und seine Freunde gekauft. Als ich nämlich gerade Hoffnung und Suche aufgeben wollte, traten sie plötzlich in mein Blickfeld, das noch immer auf den Asphalt gerichtet war: ein paar blitzblank polierte schwarze Schuhe. Darauf steckte eine Anzughose mit astreiner Bügelfalte. Und von oben fragte eine listige Stimme: "Kann ich Ihnen helfen?" Langsam blickte ich auf, sah den Rest des dunklen Anzugs, sah die akkurat gebundene Krawatte, die verspiegelte Sonnenbrille, schließlich das zurückgegelte blonde Haar. Kein Zweifel, das war er. Ein Scherge Toms und seiner Bande, gekommen um mich einzufangen. Und in Komplizenschaft des Herrn hatten sie mich dafür der Hälfte meiner Sehhilfen beraubt. Aber so leicht würde ich es ihnen nicht machen, oh nein! Wie der Blitz sprang ich auf, in Kämpferpose, und direkt weiter in den Sattel meines unruhig schnaubenden Fahrradhengstes. Und schleuderte dem unheimlichen Anzugträger entgegen, schon eine Pedale unter dem Fuß: "Ich pfeif auf Ihre Hilfe! Ich brauch Sie nicht! Gucken Sie mal, ich kann wunderbar sehen, auch mit einer Linse! Guten Tag!" Und wie der Wind stoben wir davon, mein Fahrradhengst und ich, außer Reichweite der linken Hand Gottes. Wir hielten erst an, als wir den sicheren Hafen der nächsten Fielmann-Filiale erreicht hatten, wo ich wusste, dass mir weltliche Hilfe in Form modernster Technik gewiss war. Mit dem Karatetraining war es dann natürlich vorbei.
Nun bleiben für mich folgende Fragen offen: 1. Ist Gott grundsätzlich gegen Sport, oder ist es nur die martialische Handlung, die er in meinem Fall missbilligt? Im Film "Dogma" spielt Gott in Gestalt von Alanis Morissette am liebsten Golf - eine eher friedvolle Sportart, allerdings können auch Golfschläger tödliche Waffen sein.
2. Steht Gott nun im Bunde mit zwielichtigen Schergen wie den Scientologen oder gar den Piusbrüdern oder nicht?
3. Wenn dieser Bund traurige Realität ist - wer ist dann der Boss? Hat der Herr sich von Tom Cruise und Partnern kaufen lassen und schickt einen Windstoß, damit ein hilflos gewordenes Schäfchen sich in die nächstbesten vermeintlich rettenden Arme begebe oder war es vielmehr der Höchste persönlich, der den armseligen Anzugträgern gesagt hat, "Hier, ich werfe sie euch kniend vor die Schwelle, nun sammelt sie gefälligst für mich ein und sorgt dafür, dass sie nie wieder Sport treibt!"?
Vielleicht sollte ich es tatsächlich einmal mit Golfspielen versuchen und schauen, was dann passiert.

Sonntag, 5. April 2009

Endlich: das Hörerlebnis mit Hafenblick!

Verehrte Leser, es ist wieder so weit: Sie dürfen zum Zuhörer werden und Septentryo, gelesen von Fraunoelle, live erleben - mit allen Extras und Neuigkeiten. Das Ganze in gewohnt wohnlicher Wohnzimmeratmosphäre und diesmal zusätzlich vor spektakulärer Hafenkulisse!
Wenn Sie das alles wollen, kommen Sie am Sonntag, dem 19.04. dieses Jahres in die Hafenstraße 129a (nicht wundern, das Haus steht direkt neben der Nummer 112) im schönen St. Pauli und seien Sie kurz vor 19 Uhr da, damit wir pünktlich anfangen können. Bringen Sie Ihre Freunde und Ihre Familie mit. Für Getränke wird gesorgt sein und dafür darf gespendet werden, abgesehen davon ist das Erlebnis wie immer gratis.

Dienstag, 31. März 2009

Eine Rose ist eine Hose ist eine Frau

Zugegeben ist dieser Eintrag reichlich opportunistisch: Ich schaffe es durch ihn noch gerade, zwei Einträge in den März zu zwängen. Bevor es zum Aprilscherz kommen könnte. Durch ihn wandert Septentryo wieder ein Stückchen hoch in meiner Browser-Favoritenliste. Und so kurz er sein wird, soll er doch ein paar Leser bei der Stange halten. Außerdem plane ich durch ihn das nächste Thema einzuleiten, das dann auch vielleicht etwas umfangreicher bzw. regelmäßiger behandelt werden wird.
Also, geschätztes Publikum, ich lade Sie ein, mit mir folgenden zweifellos etwas übers Knie gebrochenen Syllogismus gedanklich durchzuspielen und sich danach auf die Fortführung des so angeschnittenen Themas umso mehr zu freuen:

Der des Portugiesischen nicht Mächtige Deutsche hält das portugiesische Wort für "Rose" beim reinen Hören desselben leicht für das deutsche Wort "Hose".
Als guter Latin Lover setzt der Portugiese, hat er nur genug Portwein getrunken, gern Frauen verbal mit Rosen gleich.
Also hält der des Portugiesischen unkundige Deutsche in Portugal (oder auch - natürlich! Brasilien) beschriebene Frauen oft für Hosen.

Fortführung folgt, werte Leser! Und bald gibt es auch wieder eine schnuckelige kleine Lesung in gediegener Umgebung. Bleiben Sie uns also treu und haben Sie uns weiter lieb, auch wenn wir Sie zuweilen ein wenig vernächlässigen!

Donnerstag, 12. März 2009

Besoffene Vögel mit Hauben

Es ist doch erstaunlich, wie lange der Mensch mit Überzeugungen durch die Welt laufen kann, ohne sich jemals von ihrer Richtigkeit zu überzeugen. Ich erinnere mich da an eine ältere Dame, die etwa um die Jahrtausendwende vor mir in der Schlange am Postschalter stand. Als sie an der Reihe war, wollte sie dem Postbeamten nicht glauben, der ihr sagte, diese Postleitzahl sei falsch, die gebe es nicht mehr. Sie habe aber immer an diese Postleitzahl geschrieben, beharrte die Dame. Vielleicht hatte sie nie überprüft, ob ihre Post auch ankam in den sieben Jahren davor. Oder sie hatte seit der Umstellung auf die fünfstelligen Postleitzahlen 1993 einfach keinen Brief verschickt.

Bei mir dauerte die Zeit bis zur Fehlerrealisierung allerdings noch etwas länger, nämlich mein ganzes bisheriges Leben – immerhin bald 30 Jahre – minus ein paar Tage. In dieser ganzen Zeit war ich der festen Überzeugung, eine Haubitze sei ein kleiner mitteleuropäischer Singvogel mit haubenähnlichem Kopffederwuchs. Ähnlich wie die Elritze, von der ich immerhin mit Sicherheit weiß, dass sie ein Fisch und somit dem Tier-, wenn auch nicht dem Vogelreich zuzuordnen ist. Rehkitze, Kiebitze, Elritze, Hundezitze – bei so vielen „itzen“ in Deutschlands Fauna konnte auch die Haubitze für mich nur dort beheimatet sein.
So hatte ich denn jahrzehntelang immer dann, wenn der inzwischen etwas antiquierte Kommentar „Er/sie/wir war(en) voll wie eine Haubitze“ fiel, folgendes schöne Bild im Kopf: Die betreffenden Personen saßen, zu kleinen hübschen Singvögeln mit Menschengesichtern und haubenähnlichem Kopffederwuchs mutiert, volltrunken und schwankend mit ihren Singvogel-Saufkumpanen auf überirdischen Stromleitungen und bogen sich vor Lachen oder sangen beschwipste Lieder, und manchmal fielen sie auch von der Stromleitung, weil sie so besoffen waren. Warum gerade den Vogel Haubitze ein solcher Hang zum übermäßigen Alkoholkonsum kennzeichnen sollte, war mir schleierhaft – aber wer denkt schon über die Bedeutungsherkunft jedes einzelnen Sprichworts nach.
Neulich dann, kurz nach Karneval, redeten meine Mitbewohnerin (eine echte Norddeutsche) und ich über eben jenes Volksfest. Dass dort eine Menge Alkohol konsumiert wird, ist in der Regel Thema Nummer eins, gerade wenn man mit Nicht-Karnevalisten darüber spricht. In diesem Zusammenhang entfuhr mir die Redewendung, die ich eigentlich für antiquiert halte und so gut wie nie benutze, dann aus nicht erkennbarem Grund: „Klar sind alle voll wie die Haubitzen“, oder etwas Ähnliches. Wahrscheinlich dachte ich unbewusst daran, dass im Karneval ja auch viel gesungen wird, und dabei fielen mir meine singenden Haubenvögel ein. Und abends im Bett dachte ich dann, was ich schon ein paar Mal in meinem bisherigen Leben gedacht, dann jedoch nie in die Tat umgesetzt hatte: Du musst doch einmal nachschauen, ob eine Haubitze wirklich ein Vogel ist. Irgendwie schwante mir wohl schon länger, dass sich meine Überzeugung nicht auf verifizierter Erfahrung, sondern rein auf intuitiv motivierten Vermutungen gründete. Und schaute tags darauf nach, natürlich in der gütigen Mutter aller Informationsquellen, unserer schönen Wikipedia. Und da sah mich dann drohend vom Foto ein riesiges, auf einen Panzer montiertes Kanonenrohr an! Kein Haubenvogel, sondern ein „Artilleriegeschütz“! Nicht niedlich, sondern tödlich! Kein Gesang, sondern Geschosse! Und „voll“ konnten die älteren Haubitzen wohl vor allem deshalb sein, weil in sie ordentlich dicke Kanonen gestopft wurden.
So ist denn, wenige Monate bevor ich mein drittes Lebensjahrzehnt beschließe, meine Gedankenwelt wieder um eine schöne Illusion kindlicher Unschuld ärmer geworden. Ja, ich weiß, Desillusionierung gehört zum Erwachsenwerden wie die Krise zum Börsenboom. Alkoholkonsum hat im kulturellen Gedächtnis des Volksmundes nichts mit Singen, dafür einiges mit Krieg zu tun. Als ich dies erkannte, nahm ich eine Flasche Fernet Branca (da ist immerhin ein Vogel drauf) und trank, bis ich voll war wie ein Kanonenrohr.

Donnerstag, 26. Februar 2009

Der eitle Christophorus

Schließlich habe ich dann doch begriffen, warum mir das alles geschehen war. Der Heilige gab mir einen Wink und ließ mich mein Fehlen erkennen. Und er war dabei ganz schön spöttisch. Okay, Christoph, du hast gewonnen. Ich werde dir künftig zu gegebener Zeit huldigen, darfst dir auch immer eine Opfergabe aussuchen. Nur Menschenopfer sind nicht drin, das wirst du wohl verstehen.
Es fing an mit Kaffee und Zigaretten. Nein, angefangen hatte es noch früher, mit der durchwachten Nacht davor. Ich musste am Morgen ungewöhnlich früh raus, weil ich dummerweise meinen Flug nach Wien von Köln aus gebucht hatte (alte Gewohnheit), und da muss man auch erst mal hinkommen von Hamburg aus, und vor lauter Angst zu verschlafen schlief ich dann überhaupt nicht. Nicht ein Viertelstündchen. So geschlaucht quälte ich mich über die Zugstrecke und wollte, endlich am Köln-Bonner Flughafen angekommen, erst mal eine Zigarette. Mein Luxusartikel in stimmungsgeladenen Situationen (der schönen wie der unschönen Art). Hatte aber keine. Einen Automaten gab es trotz strengen Nichtrauchergebots, aber Kleingeld hatte ich auch keins. Naja, dann hol ich mir halt noch einen Kaffee und wechlse dabei den Schein, dachte ich mir. Und verstieß widerwillig gegen eins meiner ethischen Prinzipien, indem ich mich beim völlig überteuerten Ami-Milchschäumer Starbucks anstellte. Der Milchschäummann war einer vom Typ des jungen, dunkelgelockten Schönlings mit Latinowurzeln; hübsch anzusehen, aber wenig nützlich (wie es oft ist mit schönen Dingen). Die Bedienung meiner Schlangenvorsteher dauerte derart lange, dass ich schon überlegte, wieder zu gehen. Mit der Dame vor mir gab es peinliche Verwirrung, weil er ihr einen "Vanilla Latte" partout nicht als "Milchkaffee Vanille" verkaufen wollte. Ich war auf ihrer Seite, bin ich doch gegen die sinnentleerende Inflation des feinen, kleinen italienischen Wortes latte.
Schließlich kam ich an die Reihe und machte den Fehler, gleich drei Dinge auf einmal zu wollen: Einen Milchkaffee, einen Schokocookie (konnte nicht widerstehen) zum Mitnehmen und, da es damit zu teuer geworden war, um von fünf Euro noch Zigarettengeld rauszubekommen, meine sechs Euro Restgeld vom Zehner in Münzen. Ich musste vier Euro zehn zahlen und gab ihm zehn Euro zehn. Das war zu viel für den Milchschäumer. Er starrte mein Geld verständnislos an und verweigerte mir den Wechsel mit den Worten: "Nein, also das kann ich Ihnen jetzt nicht alles wechseln, weil ich das einfach brauche." Ungläubig versuchte ich ihm zu erklären, dass es sich doch lediglich um sechs Euro in Münzen handelte und bemühte mich dabei um Fassung sowie darum, ihm nicht ins Gesicht zu schmieren: "Hör mal, Milchkaffeeschaumgesicht, ich hab mich extra in deiner blöden Schlange angestellt und bezahle extra viel zu viel für deine blöde Schoki und deinen blöden Milchschaum, weil ich mir Zigaretten kaufen und jetzt sofort da draußen eine rauchen will, und da lasse ich mir von dir nicht erzählen, dass du keine sechs Euro Wechselgeld entbehren kannst!" Irgendwie hatte er das mit den sechs Euro wohl nicht so recht verstanden und gab sie mir schließlich, vergaß aber darüber, was ich bestellt hatte und servierte mir den Cookie auf einem Teller statt zum Mitnehmen. Unwillig, das nun auch noch zu beanstanden, aß ich schnell das Gebäck auf dem Amisofa und stürmte dann gleich zum Zigarettenautomaten, wo ich aus lauter Überreizung die falsche Marke kaufte, nur weil beide Schachteln rot waren. Dergleichen passierte früher nur meiner Oma.
Endlich in Wien angekommen, wollte ich dann gern entspannen und dachte, jetzt kann's losgehen, vier Tage lang nur schöne Dinge tun! Das tat ich dann zweifellos auch, nur wurde meine Freude daran, schöne Dinge zu tun, durch die Tatsache geschmälert, dass ich dabei nicht schön sein konnte. Meine Kontaktlinsen hatte ich nämlich in Hamburg vergessen. Jede Kontaktlinsenträgerin (vielleicht sogar jeder Kontaktlinsenträger) wird mein Leid nachvollziehen können. So sehr ich zu meiner Brille stehe, gehört sie doch nicht zum Freizeit- und Ausgehoutfit.
Den richtigen Verdacht, dieser Kurzurlaub stehe unter einem Fluch, schöpfte ich aber erst, als noch zwei weitere Missgeschicke passierten: Am vorletzten Abend steckte mein Finger nach abendlicher Taxiheimfahrt in der Taxitür. Zum Glück lag genug Schnee zum sofortigen Kühlen. Am nächsten Tag, ich kaufte noch mal ordentlich Bücher ein, um das Reisegepäck auch schön zu beschweren, war ich pleite. Meine Karte konnte die Bücher nicht mehr zahlen. "Limit erreicht?", meinte die Verkäuferin mit mildem Lächeln, "Kann eigentlich nicht", erwiderte ich scheinbar unberührt (das sage ich immer, wenn meine Karte kein Geld mehr hergibt und ein Verkäufer das Dispolimit vermutet, wer will sich schon die Blöße geben; ich dachte nur, sowas passiert mir nicht mehr, so lange nach Ende des Studentenlebens) und ließ dankend meinen lieben Freund Bene bezahlen.
Von Wien ging es dann gleich weiter zum Kölner Karneval, um ein Hoch auf die alte Heimat zu singen - ohne Kontaktlinsen und ohne Geld. Beste Voraussetzungen. Aber es kam ja noch besser: In der Vorbereitung der Nachttoilette bei Freundin Alice in Köln stellte ich fest, dass ich meinen Kulturbeutel in Wien vergessen hatte. Das mag den männlichen Lesern nun nicht weiter dramatisch erscheinen, viele männliche Leser besitzen vermutlich gar keinen Kulturbeutel, aber die meisten Frauen werden mit mir fühlen: Nur ein Tag ohne die Produkte der Reinigungs- und Kosmetikindustrie, vor allem ohne Zahnbürste, kann die Hölle sein! Man fühlt sich dem Schmutz des Lebens hilflos ausgeliefert, ohne Aussicht auf die reinliche Wohligkeit in der heilen Zelle der abendlichen Toilette. Glücklicherweise aber haben Mädchen ja in der Regel alles, was andere Mädchen auch haben. Das schätze ich so an Frauenhaushalten: Immer alles da. Auch Extrazahnbürsten. (Bei der Gelegenheit fällt mir auf, dass das auch mal ein schönes Thema für einen Post wäre: Wann hören wir auf, Mädchen/Jungen zu sein und werden zu Frauen/Männern? Ich lade alle Leser herzlich zu Kommentaren ein.)
In den folgenden zwei Tagen lernte ich dann, wie gut es ist, wenn es Leute gibt, die einem vertrauen und einem das vorübergehende Leben auf Pump erlauben. So lieh ich mich durchs jecke Rheinland, kaufte mir vom geliehenen Geld ein Nivea-Reiseset für Frauen und sah in den Abendstunden in der Regel wenig, weil ich zu eitel für meine Brille war. Übrigens - überrascht's noch wen? - vergaß ich meine Lieblingsjacke und meine Lieblingsringe bei Alice in Köln.
Die Erkenntnis dämmerte mir dann im heimischen Moers, wo ich zwischendurch eine alte Freundin besuchte. Als ich in ihr Auto stieg, fiel mir die kleine runde Plakette mit dem heiligen Christophorus, dem Schutzpatron der Reisenden auf, die dort an der Armatur klebte. Die hatte ich vorher schon einmal im Auto eines Bekannten gesehen und sie dort schon unzeitgemäß gefunden. Nun fragte ich leicht spöttelnd meine Freundin, warum denn gerade sie so eine Plakette habe, sie sei doch sonst nicht so gläubig. Sie gab an, ihr verstorbener Mann habe ihr die Plakette zusammen mit dem Auto geschenkt, und der sei sowohl aber- als auch gläub-ig und -isch gewesen und könne es ja nur gut gemeint haben. Ich fand das Schutzheiligengehabe trotzdem überholt, ging aber nicht weiter darauf ein. Doch tief in mir regte sich etwas, eine Ahnung und ein Schuldgefühl.
Da ich aber offenbar immer noch nicht ganz verstanden hatte, setzte der eitle Sankt Christophorus noch einen drauf und ließ den Bahnautomaten auf der Rückfahrt in den Norden meine Kreditkarte nicht akzeptieren und stattdessen meine letzten, aber auch wirklich allerletzten geliehenen 30 Euro in bar fressen. Somit kehrte ich denn ohne einen Pfennig, ohne Kontaktlinsen, ohne Kulturbeutel und ohne Lieblingsjacke nach Hamburg zurück. Und seit heute hat der Herr Schutzpatron noch eine dicke Erkältung mit schmerzenden Mandeln und Ohren hinterhergeschickt, die mich nun voll Demut diesen Eintrag vom Krankenbett aus schreiben lässt. In Ordnung, Herr Heiliger. Ich will nie wieder über dich spotten. Gleich morgen gehe ich zum Schutzpatronplakettenladen und klebe mir dein Konterfei mitten auf die Stirn. Reicht dir das?!

Sonntag, 8. Februar 2009

Herr Vogel begegnet der Krise

Ha, da mag wohl der eine oder andere Leser gedacht haben, bei Septentryo wär Schicht im Schacht. Aber nein, verehrtes Publikum, weit gefehlt. Wir entschuldigen uns für die lange Abwesenheit, ohne jedoch alle in Frage kommenden Entschuldigungen aufführen zu wollen, dafür ist hier nicht der rechte Platz. In alter Frische melden wir uns also vielmehr zurück und erzählen von unseren Erfahrungen mit einer Begleiterin, die seit einiger Zeit in unser aller Munde ist: der Krise. Streng genommen erzählen wir von den Erfahrungen, die ein anderer Bekannter mit ihr gemacht hat, uns selbst ist sie nämlich noch nicht begegnet. Dafür traf sie Jürgen Vogel. Und er, der Lebenskünstler, fand einen Weg aus ihr heraus und statuierte gleichzeitig ein Exempel für viele findige Mitmenschen, die sich wie er nicht ihrem Schicksal ergeben wollen, sondern gewillt sind, das Beste daraus zu machen.
Zuerst fiel mir die schwachsinnige Privatfernsehwerbung auf. Gesucht wurde die lustigste Straße der Welt, und als Beispiele wurden etwa die Tusneldaallee und irgendeine Straße, deren Name Exkremente konnotierte, genannt, die aber beide gar nicht für den Titel in Frage kamen, denn der gebührte einzig, so suggerierte das Plakat, der Schillerstraße. Dort haust nämlich, nächste Suggestion im Untertitel, die lustigste WG der Welt. Und die ist jetzt mit Jürgen Vogel, hieß es schließlich ganz klein. Oh Gott, was macht der Jürgen Vogel da, durchfuhr es mich, der ist doch ganz nett. Na, wenigstens schien es ihm so peinlich zu sein, dass er sich nur ganz klein hatte drucken lassen. Trotzdem war ich sauer auf Herrn Vogel, dass er sich für sowas hergab.
Gemäß dem Naturgesetz, dass einem vorher unbekannte Dinge mit einem mal ständig und überall begegnen, fiel mein Blick am nächsten Tag auf die neue Ausgabe von "Einkauf aktuell". Das ist dieses gelbrot umrandete Postblättchen, das man immer ungewollt in den Briefkasten bekommt und dann sofort wegschmeißen will, was aber nicht geht, weil man ja Müll trennt und die Post gerissenerweise das bedruckte Umweltpapier in Folie einschweißt, so dass man beim erzwungenen Aufreißen zwecks Trennung unwillkürlich einen Blick auf den Titel wirft. Und da war er, der Jürgen in seiner neuen WG, grinsend und von komischen Menschen umgeben, von denen einer eine Bohrmaschine in der Hand hielt. Sieht ein bisschen aus wie Dschungelcamp ohne Natur, dachte ich. Und erfuhr beim Nachlesen, dass die Bewohner dieser unsäglichen WG, deren Hauptmieter nunmehr Jürgen Vogel ist, während der Sendung spontane und sehr lustige Regieanweisungen bekommen, die für die Mitbewohner nicht zu hören sind und die sie dann zu deren Erstaunen umsetzen müssen. Es handelt sich um so schreiend komische Anweisungen wie "Sprich wie ein Büttenredner" oder "Dir ist gerade ein Geist erschienen". Schon beim Lesen kamen mir schier die Tränen vor Lachen. Wie das erst in der Umsetzung des darstellenden Spiels abgehen musste, wie tausend Zäpfchen! "Mann Jürgen, warum machst so'n bescheuerten Mist mit?!", herrschte ich das grinsende Foto von Herrn Vogel an.
Ich wusste ja nicht, dass es eins dieser sprechenden Bilder war, die man sonst nur aus Harry Potter kennt. Denn plötzlich löste sich das erstarrte Grinsen und der Jürgen beugte sich mir aus dem Bild ein Stück entgegen. "Naja, das musst du schon ein bisschen differenzierter betrachten, Fraunoelle. Auch ich bin nicht von allen guten Geistern verlassen und habe durchaus meine Gründe." "Ach ja?", schnaubte ich, "lass mich raten: Dass du dich nun fürs Trash-TV prostituierst, hat nicht zufällig, wie ja überhaupt kaum eine Form der Prostitution, etwas mit Geld zu tun?" "Ja, das schon", sagte Jürgen nun etwas kleinlaut, "aber ob du's glaubst oder nicht: Jemand hat mir zu diesem Schritt geraten, der es wirklich wissen muss: die Krise höchstpersönlich." Nunmehr neugierig geworden, ließ ich ihn erzählen:
"Es war an einem Mittwoch- oder Donnerstagabend, ich war einigermaßen angetrunken auf dem Heimweg von einer Party mit Schauspielerkollegen und wollte mich abkühlen, deshalb ging ich zu Fuß. Da stellte sich mir auf der menschenleeren Straße plötzlich eine Gestalt entgegen, kaum als Mann oder Frau zu unterscheiden. Sie sah mich direkt an, und das Gesicht sah verhärmt und sorgenvoll aus. Sie hatte traurige, wässrige Augen von unbestimmbarer Farbe und war sehr schlank, dabei sehnig und asketisch. Und sie schien mich zu kennen, ja auf mich gewartet zu haben. Denn sie sagte ohne Umschweife: "Jürgen, ich muss dich ermahnen. Du lebst zu sehr in Saus und Braus. Auch du solltest dich mit dem Gedanken anfreunden, dass die fetten Jahre nun vorbei sind. Denn ich habe nun Einzug ins Land gehalten, und das heißt für Euch alle: Gürtel enger schnallen!" Da wurde mir ganz schön mulmig, denn ich merkte, dass ich es hier mit der Krise persönlich zu tun hatte, und schüchtern fragte ich: "Deine Worte können nur wahr sein. Aber was rätst du mir zu tun, um nicht bald den Boden der Existenz unter den Füßen zu verlieren?" Und die Krise sprach, als hätte sie auf diese Frage gewartet: "Mach es wie der biblische Josef, der in den sieben fetten Jahren genug Vorräte ansammelte, um sein Volk durch die sieben mageren Jahre zu bringen. Und mach es wie beim Karneval: Kontere den tierischen Ernst mit möglichst vielen fulminanten Lachnummern, die gar nicht immer lustig sein müssen! Gehe nun zum Privatfernsehen und spare das viele Geld, das du dort verdienen wirst!" Ja, und mit diesen Worten war sie auch schon weg, hatte sich in Luft aufgelöst. Und ich dachte mir, Mensch Jürgen, du bist doch privilegiert, eine solche Erscheinung zu haben, mach was draus! Und wie einen Wink des Schicksals erfuhr ich dann, dass Cordula Stratmann ausgezogen war aus der Schillerstraße. Ich also sofort hin und hab denen meine Visage geboten für eine Summe, die mich über die mageren Jahre bringen wird. Musste denen nur versprechen, bis Drehbeginn ordentlich Comedy zu pauken. Ich seh das so als ne Art Fortbildung. Muss man auch machen in Krisenzeiten."
Sprach's und gliederte sich wieder in sein Bild ein. Und ich dachte, vielleicht hat er gar nicht so Unrecht, und überlegte, was ich als kleine, brave, minderbemittelte Bürgerin tun kann, um meinen Beitrag in Zeiten der Krise zu leisten. Und entschied mich, Herrn Vogels Erlebnis hier aufzuschreiben und seine Botschaft zusammengefasst und und auf den Punkt gebracht in die Welt zu tragen: Wenn Sie in der Krise nicht zu den Verlierern zählen wollen,
1. Machen Sie's wie Josef. Schrecken Sie dabei auch vor scheinbar unwürdigen Beschaffungsmaßnahmen nicht zurück.
2. Seien Sie aus Prinzip wider den tierischen Ernst.
3. Seien Sie bereit, auch mal was Neues zu lernen.
4. Wenn Ihnen das alles ein bisschen zu viel auf einmal ist, schauen Sie ab und zu "Schillerstraße" und warten erst mal ab, ob Herr Vogel mit seiner Strategie Erfolg hat. Vielleicht ist bis dahin ja die Krise längst weitergezogen.

Samstag, 3. Januar 2009

Der Corolla und ich beim Einhüten

Willkommen in 2009, liebe Leser! Nun dauert es nur noch drei Monate, dann wird Septentryo ein Jahr alt (für seine Spezies ein durchaus respektables Alter) und Sie sind immer noch dabei oder neu hinzugekommen, wie schön.
In diesem ersten Eintrag des neuen Jahres gibt es ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten: dem Corolla. Ohne den käme ich nämlich gar nicht da hin, wo ich mich gerade zum zweiten Mal aufhalte. Es handelt sich um einen Jahrhunderte alten Bauernhof mitten in der Lüneburger Heide. Und gestern auf dem Hinweg hätten uns der Corolla und ich, da nun der wahre Winter eingebrochen ist, fast mächtig auf die Schnauze gelegt. Das Anwesen, das ich die Freude habe zu hüten, liegt nämlich sowas von außerhalb, dass die sogenannte Dorfstraße bei Schnee ihrem einsamen Schicksal überlassen ist; nur ganz selten fährt ein Auto darüber und macht den Schnee ein wenig fest, so dass er schön rutschig wird. Wie ich also so mit dem treuen Corolla von der letzten Bastion der fahrenden Zivilisation auf besagte Dorfstraße einbiege, es hatte schon zu schneien begonnen, merke ich plötzlich sehr deutlich, dass der Corolla wohl vieles drauf hat, nur keine Winterreifen. Wir schlingern ein paar bedrohliche Meter, ich rufe "hooo, Corolla, Vorsicht!!", und er kann sich gerade noch fangen. Im absoluten Schritttempo erreiche ich klopfenden Herzens den rettenden Hof und stelle den Corolla unters schützende Dach; der schüttelt sich erst mal. Das war gestern Abend. Seitdem hat es fortwährend geschneit, und wenn es bis morgen so weiter schneit, werden der Corolla und ich wohl bis zur Schneeschmelze hier bleiben müssen, denn so kommen wir hier nicht weg.
Derweil hüte ich also Haus, Hund (aber der hütet auch ein bisschen mich und das Haus mit) und zwei Pferde. Allerdings, das war meine erste Lektion, heißt das hier "einhüten". Ich hüte ein. Und die zweite Lektion war: oben nur Pipi. Im Obergeschoss, wo ich schlafe, ist nämlich das Abwassersystem nicht mehr ganz auf der Höhe und bei festeren Dingen als Pipi verstopft es. Man muss sich also vor jedem Toilettengang immer gut überlegen, muss ich jetzt Pipi oder Aa? Man wird aber auch noch mal dran erinnert, wenn man oben auf dem Klo sitzt, denn dann hängt in Augenhöhe am Waschbecken ein Schild mit der Warnung: "Hier nur Pipi!" Gottlob ist mir bisher auch kein Missgeschick in der Richtung passiert. Nur auf der Treppe bin ich heute Morgen ausgerutscht, wobei sich mein rechter Fuß sehr schmerzhaft nach hinten bog. Und ich dachte, bitte keine ernsthafte Verletzung, sonst lieg ich hier bis zur Schneeschmelze, wenn der Hund sich nicht was zu meiner Rettung einfallen lässt. Aber meine Füße sind inzwischen Karate-geübt, nix passiert.
Überhaupt fühle ich mich hier, in diesem riesigen Haus mitten auf dem Land, umgeben nur von zwei anderen Höfen, Stallungen, Feld und Wald, allein mit einem Hund und zwei Pferden (die sich im Ernstfall nicht groß um mich scheren würden), so sicher und geborgen wie selten. Dabei gruselt es mich eigentlich schnell. Gestern Nacht aber bin ich noch spät mit dem Hund im Schnee spazieren gegangen, und seltsamerweise hatte ich keine Angst. Gut, ich war schon froh, den Hund dabei zu haben, aber ich befürchtete nicht wie sonst häufig, irgendwelche nachtaktiven Fabelwesen könnten mir hinter einem Busch auflauern. Und der Landstreicher ist auch schon länger ausgestorben, glaube ich. Es fällt einfach schwer, sich etwas vorzustellen, das den Frieden dieses Idylls trüben könnte. Derart ergreift es wohl die meisten von uns Städtern, wenn wir nach längerer Zeit einmal wieder aufs Land flüchten: Es entspannt unsere Sinne, berührt unsere Seele und erfüllt uns mit Frieden.
Mit der Zeit wird man dann wohl wieder etwas geerdeter, so wie der Postmann hier, für den die ganze Herrlichkeit ja nun wirklich nichts Neues ist. An meinem ersten Hütetag öffnete ich ihm freudestrahlend die Tür, weil ich dachte, auf dem Land muss man sich immer gut mit den Briefträgern unterhalten, die bringen ja auch die Neuigkeiten, neben der Post. Ich also voller Stolz und in Erwartung eines anregenden Plausches zu ihm: "Morgen, ich hüte hier das Haus!" (Da wusste ich noch nicht, dass es hier "einhüten" heißt.) "Schön für Sie", entgegnet er nur, gibt mir die Post und ist auch schon wieder weg. Und ich geplättet. Meine Sozialisierung mit der Landbevölkerung befindet sich durchaus noch im Werdeprozess, dachte ich. Natürlich muss ich auch noch lernen, wer von den Nachbarn mit wem kann und wer nicht. Ist ja auch immer so ne Sache hier draußen. Na, macht nichts. Bis ich mich mit den Menschen arrangiert habe, rede ich eben mehr mit den Tieren und genieße das Schweigen der Landschaft.

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